Friedrich Merz
analyse

Unions-Kurs zur Migration Nach der Zäsur ist vor der Richtungswahl

Stand: 30.01.2025 16:54 Uhr

Erstmals hat die Union Stimmen der AfD in Kauf genommen, um eine Mehrheit im Bundestag zu bekommen. Wie tief sind die Gräben jetzt? Was heißt das für die Abstimmung morgen? Und wer will überhaupt noch mit wem koalieren?

Eine Analyse von Lissy Kaufmann, ARD-Hauptstadtstudio

Es muss schon viel geschehen, bis sich eine Ex-Kanzlerin in das laufende politische Geschehen einmischt. Es muss noch mehr geschehen, bis eine Ex-Kanzlerin dabei öffentlich ihren Nachfolger im Amt des Parteichefs kritisiert - in Wahlkampfzeiten.

Genau das ist jetzt passiert. Erstmals hat die Union Stimmen der AfD in Kauf genommen, um eine Mehrheit im Bundestag für einen Antrag zu Migration zu bekommen. Am Tag danach veröffentlicht Angela Merkel eine schriftliche Stellungnahme. Sie erinnert darin an Merz' Vorschlag vom November, bis zur Wahl keine Mehrheit mit Stimmen der AfD zu beschaffen.

"Ich halte es für falsch, sich nicht mehr an diesen Vorschlag gebunden zu fühlen", schreibt Merkel und verweist auf das europäisches Recht. Auf Basis dessen sollten alle demokratischen Parteien zusammenarbeiten, um Attentate wie in Magdeburg oder Aschaffenburg verhindern zu können.

 

Merkels Intervention verdeutlicht die Dramatik der Lage

Das sitzt - auch wenn Merz und Merkel schon vorher keine Freunde waren. Es ist ein bemerkenswerter Schritt von einer Frau, deren Vorsatz es war, sich als Altkanzlerin nicht mehr in die aktuelle Politik einzumischen.

Es ist ein Schritt, der die Dramatik der Lage verdeutlicht und zeigt, dass sich da in Deutschland gerade etwas verschoben hat und tiefe Risse zieht. Risse durch die Gesellschaft, durch die Politik, aber auch durch das konservative Lager. All das dürfte eine Regierungsbildung nach der Bundestagswahl am 23. Februar erschweren.

"Dahinplätschernden Wahlkampf erheblich beschleunigt", Volker Kronenberg, Politologe, zur Wahlkampftaktik von Friedrich Merz

tagesthemen, 30.01.2025 22:15 Uhr

Wirtschaftsdebatte wird dominiert von der Abstimmung

Die Schockwellen der Entscheidung von Mittwochabend ziehen sich bis in die heutige Bundestagsdebatte. Eigentliches Thema ist der Jahreswirtschaftsbericht und die darin herunterkorrigierte Wachstumsprognose der Bundesregierung. Doch die Debatte wird dominiert von der Abstimmung am Mittwochabend. Die Mehrheit mit Stimmen der AfD sei auch ökonomisch ein Drama, sagt Wirtschaftsminister Robert Habeck.

Erst an dieser Stelle seiner Rede kommt er so richtig in Fahrt. Deutschland sei auf Zuwanderung angewiesen, so der Grünen-Politiker. Seit gestern höre er von Unternehmen, dass Menschen ohne deutschen Nachnamen sich jetzt überlegten, Deutschland zu verlassen.

Die Ereignisse seien ein Sargnagel für die deutsche Wirtschaft, sagt Habeck. Empörung auch bei seinen Kollegen: "Da ist etwas in mir gebrochen, da ist etwas in diesem hohen Haus gebrochen", sagt der Grünen-Abgeordnete Sven-Christian Kindler in seiner letzten Rede im Bundestag.

Wie koalieren nach der Wahl?

Bisher lautete die Frage, ob die Union bereit sei, mit den Grünen zu koalieren. Jetzt kann man die Frage umdrehen: Wollen die Grünen überhaupt noch mit der Union? Und die SPD? Zweifel sät Kanzler Olaf Scholz selbst: Bei Maischberger sagt der SPD-Politiker, er könne dem Unions-Kanzlerkandidaten jetzt nicht mehr trauen, nicht auch künftig auf Stimmen der AfD zu setzen.

Zweifel gibt es auch in den Bundesländern: Leichter werde eine mögliche Zusammenarbeit zwischen SPD und Union nach der Bundestagswahl nach den aktuellen Geschehnissen nicht, so der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil von der SPD.

Bliebe der Union also noch die FDP - ein Wunschpartner, der den Antrag der Union gestern unterstützt hat. Doch noch ist nicht klar, ob es die Freien Demokraten überhaupt in den Bundestag schaffen werden. Ebenso wenig das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Zu einer möglichen Koalition im Bund hat sich die Union bislang aber ohnehin noch nicht positioniert.

Markus Preiß, ARD Berlin, zur aktuellen Lage nach der Abstimmung zur Asylpolitik im Bundestag

tagesschau, 30.01.2025 20:00 Uhr

Merz erhält Rückendeckung von Söder

Wer also bleibt als möglicher Koalitionspartner? In Sachen Koalitionsbildung hat sich die Union mit der Abstimmung ohne Not in die Bredouille gebracht. Merz verteidigt sein Vorgehen und betont: Eine Zusammenarbeit der AfD werde es weiterhin nicht geben.

Rückendeckung bekommt er von CSU-Chef Markus Söder. Es brauche endlich einen echten Richtungswechsel in der Migrationspolitik, so Söder in der Rheinischen Post.

Doch die Kritiker sind laut: Überall im Land sind für heute Abend Demonstrationen geplant, auch vor den Parteizentralen der CDU, auch in Berlin: gegen rechts - und für die Aufrechterhaltung der Brandmauer.

Nächster Streitfall: das "Zustrombegrenzungsgesetz"

Schon morgen steht Merz vor der nächsten Richtungsentscheidung. Dann will er den Entwurf für das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz zur Abstimmung stellen. SPD und Grüne lehnen ihn ab. Eine Mehrheit würde erneut nur mit Stimmen von FDP, BSW und AfD zustande kommen.

Bleibt die Union bei ihrem Plan, kommt es also tatsächlich zu einer erneuten Abstimmung mit der AfD, dürfte sich der Riss durch das demokratische Lager vertiefen. Zieht die Union zurück, dürfte Merz in seinem eigenen Lager als einer dastehen, der zu schwach war und vor Kritikern eingeknickt ist.

Selbst wenn der Gesetzentwurf der Union durch den Bundestag kommt: Spätestens im Bundesrat dürfte er auf Ablehnung stoßen. Aus den unionsgeführten Ländern kommt der Appell zur demokratischen Zusammenarbeit ohne die AfD.

Es klingt wie ein Ruf der Verzweiflung in letzter Sekunde: "Alle Parteien, die es gut mit der Demokratie meinen und die unser Land über Jahrzehnte geprägt haben, müssen jetzt eine gemeinsame Lösung erreichen", sagt Daniel Günther, CDU-Politiker und Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, und wendet sich ausdrücklich auch an SPD, Grüne und FDP. Und auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) wendet sich an die demokratischen Parteien, die drängenden Probleme zusammen zu lösen und den Aufstieg der AfD zu verhindern.

Es sind brisante Tage in dieser letzten vollständigen Sitzungswoche im Bundestag. Dem Wahlkampf haben sie eine ganz neue Dynamik verpasst.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 30. Januar 2025 um 17:00 Uhr.