Reden des Bundespräsidenten Steinmeiers Dilemma
Bundespräsident Steinmeier ist als Staatsoberhaupt der Neutralität verpflichtet. Gleichzeitig treibt ihn die Sorge um die Zukunft des Landes um. Müsste er Demokratiefeinden gegenüber deutlicher werden?
Frank-Walter Steinmeier ist unter seinen Leuten in Schloss Bellevue bekannt dafür, dass er an seinen Reden noch selbst Hand anlegt und feilt - dabei holt sich der Bundespräsident gern renommierte Autorinnen und Autoren ins Team, um die Reden vorzubereiten. An seiner Ansprache zum 75. Jahrestag des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee dürfte er besonders gefeilt haben - es geht um Steinmeiers Herzensthema, das ihn von Beginn seiner ersten Amtszeit an umtreibt: Die Bedeutung der Demokratie hierzulande.
Demokratiefeinde ansprechen
Der Unterschied zum Beginn seiner ersten Amtszeit ab dem Jahr 2017 ist, dass Demokratiefeinde inzwischen deutlich mehr Zulauf haben - und das Vertrauen in die Regierungspolitik weiter sinkt. Zwei Studien der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung aus den Jahren 2019 und 2022 zufolge liegen die Zufriedenheitswerte zum Funktionieren der Demokratie jeweils knapp unter 50 Prozent. Ein Alarmsignal - nicht nur für den Bundespräsidenten. Er müsste es als seine zentrale Aufgabe sehen, diese Gruppe anzusprechen.
Näher ran - wohl auch deswegen hat er sich nach der Wiederwahl im Februar 2022 das Format "Ortszeit" ausgedacht. Jeweils drei Tage lang verlegt er seinen Amtssitz in kleinere Orte des Landes und diskutiert dort mit möglichst vielen verschiedenen Menschen - egal, ob am Marktstand oder mit Vertretern der Kommunalpolitik. Aber ob das reicht? Er punktet im direkten Gespräch. Je größer das Publikum, desto spröder, dozierender und technokratischer wirkt der Kenner politischer Verwaltungsapparate - seine Reden schwanken irgendwo zwischen Vorlesung und Vortrag.
Demokratiestabilisierende Funktion
Steinmeier führte im Februar 2017, im Monat seiner Wahl zum Bundespräsidenten, die Liste der Politikerzufriedenheit als damaliger SPD-Politiker und Außenminister mit 79 Prozent im ARD-Deutschlandtrend an, weit vor Bundeskanzlerin Angela Merkel. Nur Bundespräsident Joachim Gauck lag mit 81 Prozent höher in der Gunst der Menschen. Die damals noch nicht im Bundestag vertretene AfD lag bei 12 Prozent. Der Politologe Heinrich Oberreuter attestierte Steinmeier zum Ende seiner ersten Amtszeit eine demokratiestabilisierende Funktion.
Die wäre jetzt nötiger denn je: Im aktuellen Deutschlandtrend liegt die in Teilen rechtsextreme AfD mit einem neuen Höchstwert bei 21 Prozent, in einigen ostdeutschen Bundesländern weit darüber - nicht all ihre Sympathisantinnen und Sympathisanten gelten gleich selbst als rechtsextrem, jedoch scheint sie die völkisch-nationale und minderheitenfeindliche Ausrichtung der Partei nicht zu stören. Es ist davon auszugehen, dass Steinmeier das sehr umtreibt: Steht der antitotalitäre Grundkonsens des Landes noch, der sich nicht nur aus dem Verfassungskonvent 1948 in Westdeutschland speist, sondern auch aus der friedlichen Revolution der Ostdeutschen 1989?
Allgemein und diplomatisch
Gemessen daran, wie Steinmeier die Sorge um die Zukunft der Demokratie hierzulande zu beschäftigen scheint, wirken seine öffentlich gewählten Worte irritierend allgemein und diplomatisch. Im ZDF-Sommerinterview vor einem Monat etwa nimmt er, angesprochen auf das AfD-Umfragehoch das Wort "rechtsextrem" nicht in den Mund.
Natürlich: Er steht protokollarisch an der Spitze des Staates und ist als Staatsoberhaupt zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet. In Konsequenz heißt das klar: Er ist auch der Repräsentant der AfD-Mitglieder und -Wählerschaft. Einerseits soll er laut Verfassungsgericht eine gewisse Distanz zu Zielen und Aktivitäten von politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen wahren. Andererseits soll er eine verfassungswahrende Kontrollfunktion einnehmen. Autorität und Würde seines Amtes bezieht er gerade über geistig-moralische Wirkung - politische Entscheidungen sind schließlich Sache der Exekutive, der Regierung.
Warnen, aber nicht benennen
Man könnte das als ausreichend Spielraum auslegen, hier deutlicher vor Parteien und Bewegungen zu warnen, die in Teilen verfassungsfeindlich sind und zu versuchen, deren Anhängerinnen und Anhänger ins demokratische Spektrum zurückzugewinnen. Oder als Dilemma.
Für Steinmeier scheint es letzteres zu sein: Er will vor der AfD warnen, aber nennt sie nicht beim Namen. Damit klingen seine Statements und Worte mitunter so allgemein, dass sich keiner davon richtig angesprochen fühlen muss. So klug sie auch formuliert sein mögen, stellt sich die Frage: Erreicht er die Menschen, die sich immer mehr im Protest abwenden? Er sagt dazu nur: Wählerinnen und Wähler übernähmen Verantwortung, wenn sie Parteien stärkten, "die zur Verrohung der Auseinandersetzung beitragen".
Oder müsste er nicht einfach mal zur Primetime klar und deutlich ins Mikro sagen: Es gibt derzeit Parteien und Bewegungen, die ein anderes politisches System anstreben und unseres zerstören wollen? Er muss sie ja nicht gleich als "Schreihälse" ohne Verstand in den Hirnen titulieren - wie es Bundeskanzler Olaf Scholz im Juni bei einem öffentlichen Auftritt gegen Putin-freundliche Störer herausrutschte.
Zu vorsichtig?
"Niemand hindert ihn daran zu sagen, dass es im deutschen Parteiensystem Parteien gibt, die an den Grundfesten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung rütteln", sagt der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer im Gespräch mit tagesschau.de. Er könne sehr viel deutlicher auf den Charakter der im Bundestag vertretene AfD mit ihrem völkisch-nationalen Konzept verweisen.
Verglichen mit den deutlichen Äußerungen des Verfassungsschutz-Präsidenten Thomas Haldenwang zur AfD wirkt Steinmeier geradezu vorsichtig. "In einer Reihe von Äußerungen kommt ein ethnisches Volksverständnis zum Ausdruck, etwa indem der 'Große Austausch' beschworen wird", so Haldenwang im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio: "Solche Äußerungen bieten Anhaltspunkte dafür, dass hier die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes für bestimmte Bevölkerungsgruppen infrage gestellt wird."
In einem aktuellen Gastbeitrag im "Spiegel" spricht Steinmeier recht allgemein vom Kampf gegen den Extremismus: "Klarer, entschiedener, ja kämpferischer Widerspruch der demokratischen Parteien ist zum Beispiel immer dann gefordert, wenn Agitatoren in einer kommunalen Versammlung unsere Demokratie als "System", "Unrechtsregime" oder "Diktatur" verunglimpfen und ihre Beseitigung fordern."
Womöglich müsste er doch noch deutlicher werden, auf die aktuelle Gefahr einer autoritären Entwicklung hinweisen - und dass solche Sprüche bereits jeden Tag irgendwo in der Republik zum Alltag gehören.