Klingbeil in der Türkei Nebenaußenpolitik im Sinne des Kanzlers?
Lars Klingbeil ist als SPD-Vorsitzender in die Türkei gereist. Doch teils sprach er wie ein Regierungsmitglied. Macht die SPD Außenpolitik an Außenministerin Baerbock vorbei?
Die Stimmung ist gut in der Parteizentrale der HDP in Ankara. Als der HDP-Co-Chef Mithat Sancar und SPD-Chef Lars Klingbeil auf das Podium im Presseraum steigen, scherzt der HDP-Vorsitzende, es sei nicht schön, neben Klingbeil zu stehen. Er meint den Größenunterschied der beiden. Sancar geht Klingbeil gerade bis zu Schulter. Klingbeil nimmt den Ball auf und antwortet: "Frag mal Olaf Scholz!" Beide Männer lachen. Sie können sich auf Deutsch unterhalten, denn der HDP-Chef spricht die Sprache fließend. Klingbeil und Sancar duzen sich.
HDP und SPD sehen sich als Schwesterparteien. Beide sind Mitglied der sogenannten Progressive Alliance, einem internationalen Zusammenschluss Sozialdemokratischer Parteien.
Treffen mit Erdogans Konkurrenten
Der SPD-Co-Vorsitzende ist zum richtigen Zeitpunkt nach Ankara gekommen: Am Vormittag hat die HDP verkündet, dass sie keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufstellen wird. Aus Klingbeils Sicht ist das eine gute Nachricht - es erhöht nämlich die Chancen für einen anderen Gesprächspartner an diesem Tag: CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu.
Auch die CHP ist eine Schwesterpartei der SPD. Kilicdaroglu führt derzeit die Umfragen in der Türkei teilweise deutlich an. Er hat gute Chancen, die Herrschaft von Präsident Recep Tayyip Erdogan zu beenden. Der deutsche SPD-Chef trifft hier also den möglichen nächsten Präsidenten der Türkei. Auch für Klingbeil ist das noch etwas Besonderes, das merkt man ihm an.
Streitpunkt Flüchtlingspolitik
Das Treffen mit Kilicdaroglu ist in einer Frage nicht einfach für den SPD-Chef: Die CHP und ihr Präsidentschaftskandidat haben aus SPD-Sicht eine schwierige Haltung in der Flüchtlingspolitik. Die Millionen syrischen Geflüchteten im Land will die CHP am liebsten wieder nach Hause schicken. Auch das EU-Türkei-Flüchtlingsabkommen stellt Kilicdaroglu infrage. Klingbeil betont in allen Gesprächen, dass Deutschland die Vereinbarung aber gerne verlängern würde.
Der Niedersachse ist in schwieriger Mission unterwegs, denn er ist kein deutscher Regierungsvertreter. Im Gegenteil: Klingbeil betont, dass er als Parteivorsitzender in der Türkei sei.
Gespräche im Sinne des Kanzlers
Trotzdem wird er natürlich anders wahrgenommen: Klingbeil ist der Chef der Kanzlerpartei. Das wissen die Türken auch. Und manchmal blitzt auch auf, dass er eben kein normaler Parteivorsitzender ist. Als er am Dienstag in der vom Erdbeben stark getroffenen Stadt Nurdagi zum ersten Mal auf den CHP-Chef Kilicdaroglu trifft, spricht er wie ein deutsches Regierungsmitglied. Er sagt, Deutschland habe mit der Türkei mitgeweint. Auch im Namen von Bundeskanzler Olaf Scholz wolle er sein tiefes Mitgefühl ausdrücken.
Der SPD-Chef ist hier auch als eine Art Nebenaußenminister unterwegs. In der SPD nimmt man eine Lücke wahr, die Außenministerin Baerbock in den Augen einiger Sozialdemokraten hinterlässt. Pragmatische, realpolitische Gespräche im Sinne des Kanzlers zu führen, das trauen der Außenministerin nicht alle zu.
Eindruck von Einflussnahme verhindern
Eigentlich ist bei der Reise auch ein Gespräch mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu vorgesehen, doch das Treffen platzt. Klingbeil hatte sich zuvor auf Social Media kritisch über ein laufendes Verbotsverfahren gegen die SPD-Schwesterpartei HDP geäußert. Für den türkischen Außenminister offenbar Grund genug, das Treffen abzusagen.
Klingbeil trifft stattdessen türkische Abgeordnete mit Verbindungen nach Deutschland. Darunter auch den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im türkischen Parlament, Akif Cagatay Kilic von der Erdogan-Partei AKP. Klingbeil will auf keinen Fall als parteiisch wahrgenommen werden. Bloß nicht der AKP einen Grund liefern, von deutscher Einflussnahme auf den Wahlkampf sprechen zu können.
Treffen mit deutschen Helfern im Erdbebengebiet
Am Tag zuvor im Erdbebengebiet nahe der syrischen Grenze will sich Klingbeil ein Bild über die Lage vor Ort machen. Er wolle sehen, wie Deutschland noch besser helfen könne, sagt er dem CHP-Präsidentschaftskandidaten Kilicdaroglu. Der gibt darüber auch bereitwillig Auskunft. Die Türkei brauche derzeit vor allem Zelte und Wohncontainer. Und davon viele.
Kurz vor dem Rückflug aus den Erdbebengebieten zeigen sich auch die Vorteile einer Reise als Parteichef: Am Flughafen von Gaziantep ist Klingbeil mit vier Männern aus seinem heimischen Wahlkreis verabredet. Die Mitglieder eines kurdischen Fußballklubs aus dem Heidekreis haben in Deutschland über 30.000 Euro Spenden für die Erdbebenopfer gesammelt und das Geld selbst in den Osten der Türkei gebracht.
In den vergangenen zehn Tagen sind sie rund 4000 Kilometer gefahren, um möglichst vielen Menschen helfen zu können. Für Klingbeil sind sie nochmal fünf Stunden gefahren, um ihn zu treffen. Nach dem gemeinsamen Kaffee im Flughafen müssen die vier die Strecke auch wieder zurückfahren. Klingbeil ist sichtlich stolz auf die Männer aus seinem Wahlkreis.
Als Minister wäre so ein Treffen nicht möglich gewesen. Parteiarbeit und Regierungsjobs dürfen nicht vermischt werden. In seinem Job als Parteivorsitzender kann er aber Wahlkreisarbeit mit Nebenaußenpolitik im Sinne des Kanzlers verbinden.