Krisentreffen zur EU-Verfassung Polen will nicht nachgeben
Schweigend waren Polens Präsident Kaczynski und Kanzlerin Merkel nach einem Krisengespräch über die EU-Reform auseinandergegangen. Auf dem Heimflug dann äußerte sich Kaczynski. Beide Seiten hätten auf ihrer Position beharrt. Die Atmosphäre sei dennoch gut gewesen. Inzwischen traf Merkel einen weiteren Kritiker.
Die polnische Regierung bleibt trotz zahlreicher Appelle aus der Europäischen Union bei ihrem Nein zu einer Reform der EU. Auch ein Gespräch zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Polens Präsident Lech Kaczynski brachte am Abend im brandenburgischen Meseberg keinen Fortschritt. Nachdem beide Seiten ohne öffentliche Erklärung auseinander gegangen waren, sagte Kaczynski auf dem Heimflug nach Warschau, beide Regierungen blieben bei ihren Positionen. Man sei jedoch gemeinsam der Überzeugung gewesen, dass es noch vor dem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag in Brüssel zu einem Erfolg kommen müsse.
Kaczynski erläuterte weiter, er habe gegenüber Merkel seinen Standpunkt wiederholt, dass die von Polen vorgeschlagene Lösung bereits ein Kompromiss sei. Die Atmosphäre bei dem Treffen auf Schloss Meseberg sei aber gut gewesen. "Es gab keine Drohungen oder Erpressungsversuche gegen Polen, wie wir sie in vielen früheren Gesprächen hinnehmen mussten", sagte er, ohne näher auf die Vorwürfe einzugehen.
Derzeit hat Polen fast ebenso viele EU-Stimmrechte wie Deutschland, allerdings nur halb so viele Bürger - rund 40 Millionen Polen stehen gut 80 Millionen Deutsche gegenüber. In Prozent ausgedrückt hat Deutschland 8,4 Prozent der EU-Stimmen, während es Polen auf 7,8 Prozent bringt. Das hatte Warschau im Dezember 2000 beim EU-Gipfel in Nizza durchgesetzt. Mit der neuen Verfassung würde Polen zwar etwas besser gestellt als bisher (8,0 statt 7,8 Prozent der Stimmrechte). Berlin aber würde seinen Einfluss gegenüber Warschau mehr als verdoppeln (mit dann 17,2 Prozent der Stimmrechte). Eine Berechnung nach Quadratwurzel, wie Polen sie fordert, würde Deutschland einen Stimmenanteil von neun, Polen von sechs Prozent bringen. Warschau hätte dann zwar etwas weniger Gewicht als derzeit, aber gegenüber Deutschland deutlich mehr als in der Verfassung geplant.
Polen sperrt sich gegen eine Reform der Abstimmungsverhältnisse im EU-Rat, der die Entscheidungsfindung in der EU effizienter und demokratischer machen soll. Der Verfassungsentwurf sieht dafür das Prinzip der doppelten Mehrheit vor. Warschau hat stattdessen vorgeschlagen, die Stimmrechte aus der Quadratwurzel der Bevölkerungszahl eines jeden Staates zu berechnen.
Mit dem Reformvertrag wird ein neues Abstimmungsverfahren im EU-Ministerrat, der Vertretung der Mitgliedsstaaten, eingeführt - und damit ein Kernpunkt der von Frankreich und den Niederlanden abgelehnten EU-Verfassung aufgenommen.
Für Beschlüsse soll eine "doppelte Mehrheit" nötig sein: Die Stimmen von mindestens 55 Prozent der Staaten, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Ziel ist, einen Ausgleich zwischen bevölkerungsreichen Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien und den kleinen wie Dänemark, Irland oder Malta zu schaffen. Das mittelgroße Polen hatte dem Vertragsentwurf ursprünglich zwar zugestimmt, sah sich danach jedoch benachteiligt. Polen verlangte zwischenzeitlich eine "Quadratwurzel"-Regelung. Dabei wird das Stimmrecht eines Landes ermittelt, indem die Wurzel aus seiner Bevölkerungszahl gezogen wird.
Die 27 EU-Länder einigten sich beim Gipfel nach langen Verhandlungen darauf, das Abstimmungsverfahren der doppelten Mehrheit ab 2014 mit einer Übergangzeit bis 2017 einzuführen.
Gäste geben sich Klinke in die Hand
Merkel setzte unterdessen ihre Sondierungsgespräche fort. In Meseberg empfing sie den tschechischen Ministerpräsidenten Mirek Topolanek. Auch Tschechien gilt grundsätzlich als Gegner eines neuen Stimmbverfahrens, soll sich aber zuletzt kompromissbereit gezeigt haben. Am Nachmittag will Merkel zudem mit Premierminister Jean-Claude Juncker in Luxemburg das weitere Vorgehen beraten. Dort kommen am Abend auch die EU-Außenminister zu einem Sondertreffen zusammen, um über den Nachfolgevertrag für die gescheiterte EU-Verfassung zu sprechen.
Bundesverfassungsgericht schaltet sich in Debatte ein
In diesem Zusammenhang rief der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, dazu auf, die Zuständigkeiten der EU zu begrenzen. Über organisatorische Reformen hinaus bedürfe es "einer klaren Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten", forderte Papier in einem Gastbeitrag der "Bild am Sonntag". "Zudem muss gewährleistet werden, dass Europa nur dort tätig wird, wo die Mitgliedstaaten einer Aufgabe nicht ausreichend gerecht werden können und die Gemeinschaft diese Aufgabe besser bewältigen könnte."
Papier forderte zudem, dass die neue Grundordnung für Europa auch über einen Katalog von Grundrechten verfügt. "Nur so kann das erfolgreichste politische Projekt in der Geschichte unseres Kontinents - die politische und wirtschaftliche Einigung - fortgeführt werden." Dabei dürften die Verantwortlichen nicht übersehen, dass viele Bürger "gewisse Vorbehalte gegenüber der Europäischen Union haben", schrieb der Präsident. "So mancher verbindet mit Brüssel die bürokratische Regulierungswut eines gesichtslosen Technokratentums. Das Zusammenwachsen Europas wird häufig gleichgesetzt mit Zentralisierung und einer Flut überflüssiger Gesetze."