Ein Jahr Nord-Stream-Anschläge Wohin führen die Spuren?
Ein Jahr sind die Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines her. Das Thema ist politisch höchst brisant, und noch immer ist vieles unklar. Und das könnte laut Experten auch noch länger so bleiben.
Informationen über die Nord-Stream-Anschläge zu sammeln, ist schwierig. In Deutschland ermittelt der Generalbundesanwalt, der den Innenausschuss und das Bundeskanzleramt regelmäßig informiert. Aber das passiert hinter verschlossenen Türen.
Wesentliche Infos, die über die deutschen Medien kursieren, wurden aber immer wieder bestätigt. Und demnach geht die Geschichte der Nord-Stream-Anschläge so: Anfang September 2022 sticht von Rostock aus die "Andromeda" in See, ein 15 Meter langes Boot. An Bord sind insgesamt fünf Männer und eine Frau - ein Kapitän, zwei Taucher, zwei Tauchassistenten und eine Ärztin. Dem deutschen Bootsverleiher hatten sie gefälschte Pässe präsentiert. Die Gruppe soll den Sprengstoff zu den Tatorten transportiert und dort platziert haben.
Immenser Schaden an den Röhren
In der Nacht zum 26. September 2022 wird die erste Explosion in der Nähe der dänischen Insel Bornholm registriert, am Abend desselben Tages folgten weitere. Die Nord-Stream-Pipelines bestehen aus insgesamt vier Strängen, nur ein Strang bleibt nach den Sprengungen unversehrt.
Der Schaden ist immens, eine der Röhren wurde nach Angaben der Nord Stream AG auf einer Länge von 250 Metern zerstört, an der Wasseroberfläche waren über den Lecks in einem Umkreis von bis zu einem Kilometer aufsteigende Gasblasen zu sehen.
Spuren von Sprengstoff auf der "Andromeda"
Medien berichten, die "Andromeda" sei dem Eigentümer in ungereinigtem Zustand zurückgegeben worden. Auf dem Tisch in der Kabine konnten die Ermittler Spuren von Sprengstoff nachweisen.
Im Juni 2023 wird dann bekannt, dass die USA schon lange vor den Anschlägen einen Verdacht hatten. Wie die "Washington Post" schreibt, sollen die USA diese Informationen im Juni 2022 - also drei Monate vor dem Anschlag - mit Deutschland und anderen Europäern geteilt haben.
Der Plan soll demnach sehr detailliert gewesen sein. So war offenbar geplant, dass sechs Beteiligte mit einem unter falscher Identität gemieteten Boot zu den Pipelines fahren und dann zu den Leitungen tauchen, um Sprengsätze anzubringen. Das Vorhaben sei aber aus unbekannten Gründen auf Eis gelegt worden.
Zentrale Elemente stimmten daraus mit den bisherigen Ermittlungsergebnissen überein, schreibt die "Washington Post" weiter. Dies deckt sich auch mit Informationen von ARD-Hauptstadtstudio, Kontraste, SWR und "Zeit", wonach ein westlicher Geheimdienst in etwa zur selben Zeit einen entsprechenden Hinweis an europäische Partnerdienste übermittelt habe.
Selenskyj streitet Verantwortung ab
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, er wisse nichts darüber. Die ukrainische Armee und die Nachrichtendienste hätten nichts dergleichen getan. Andernfalls würde er gerne Beweise sehen.
In internationalen Sicherheitskreisen wird nicht ausgeschlossen, dass es sich auch um eine "False Flag"-Operation handeln könne. Das bedeutet, es könnten auch bewusst Spuren gelegt worden sein, die auf die Ukraine als Verursacher hindeuten. Allerdings haben die Ermittler offenbar keine Hinweise gefunden, die ein solches Szenario bekräftigen.
Generalbundesanwalt äußert sich nicht öffentlich
Über die Frage, wer für den Anschlag verantwortlich ist, wird seitdem viel spekuliert, geklärt ist wenig. Der Generalbundesanwalt ermittelt, äußert sich aber nicht öffentlich. Bundeskanzler Olaf Scholz drängt auf Aufklärung. Beteiligt an den deutschen Ermittlungen sind das Justizministerium, das Innenministerium und das Bundeskanzleramt, wo die Fäden zusammenlaufen.
Regelmäßig wird das Parlamentarische Kontrollgremium informiert. Es ist zuständig für die Kontrolle von Bundesnachrichtendienst (BND), Militärischem Abschirmdienst (MAD) und Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Die Bundesregierung ist dazu verpflichtet, das Parlamentarische Kontrollgremium umfassend über Vorgänge von besonderer Bedeutung zu unterrichten.
Der Leiter des Parlamentarischen Kontrollgremiums ist Konstantin von Notz von den Grünen. Er werde "über die Erkenntnisse der Nachrichtendienste regelmäßig und umfassend informiert". Das Parlamentarische Kontrollgremium hat ein Fragerecht und kann bei Bedarf auch Akten ziehen. Laut von Notz habe es "einen guten Stand auf die Erkenntnisse der Nachrichtendienste".
"Müssen mit der Ungewissheit erst mal leben"
Trotz des guten Informationsflusses steht auch für von Notz nicht fest, wer hinter den Anschlägen steckt. Er glaubt, dass "wir uns wirklich abnötigen müssen, in dieser komplizierten Gemengelage mit Ungewissheit erst mal zu leben".
Bis heute ist unklar, wer die sechs Menschen auf dem Boot genau sind und wer ihr Auftraggeber war. Deutschland ermittelt in engem Austausch mit Schweden, Dänemark und Polen.
Grünen-Politiker von Notz ist sicher, dass es sich "um einen staatlichen oder quasi-staatlichen Akteur" handelt. Dieser Anschlag sei nicht von "Kriminellen oder irgendeiner kleinen Terror-Puzzle-Gruppe, die da mal einen Anschlag zusammengestoffelt hat", verübt worden. Sondern von jemandem, der das ziemlich professionell angegangen sei. Und die Professionalität der Akteure sei auch das große Problem der Ermittelnden. Staatliche Akteure wüssten ja um die Ermittlungsmethoden und -möglichkeiten, meint von Notz. Da müsse man bei den Ergebnissen noch geduldig sein.
Scholz: Aufklärungsinteresse "sehr groß"
Bundeskanzler Scholz sagt seit einem Jahr immer wieder, das Aufklärungsinteresse sei "sehr groß". Aber stimmt das? Die Nord-Stream-Anschläge sind politisch so brisant - wäre es nicht denkbar, dass die Bundesregierung lieber nicht wissen will, wer dahintersteckt?
Von Notz meint, dass die Ermittlungen seiner Wahrnehmung nach sehr ernsthaft betrieben werden. Es werde "alles Menschenmögliche" dafür getan, um herauszufinden, wer hinter diesen Anschlägen steckt. Deswegen sei er auch optimistisch, dass die Verantwortlichen gefunden und vor einem Gericht zur Rechenschaft gezogen werden - irgendwann. Aber hundertprozentig sagen könne einem das niemand. BND-Chef Bruno Kahl hatte schon im Mai Hoffnungen auf eine schnelle Klärung gedämpft.