Anschlag auf Nord-Stream-Pipelines Neue Spur führt offenbar in die Ukraine
Es gilt als eines der größten Rätsel: Wer hat den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines verübt? Nach Informationen von NDR, WDR und SZ gehen Ermittler einer neuen Spur nach. Sie führt offenbar zu einem Ukrainer.
Es ist ein unscheinbares, vergleichsweise kleines Segelboot. Unzählige davon liegen an der Ostsee. Doch die "Andromeda", 15 Meter lang, hat mittlerweile Weltruhm erlangt. Von ihr gehen die bislang offenbar heißesten Spuren deutscher Ermittler in einem der spektakulärsten Kriminalfälle aus - den Sprengstoffanschlägen auf die Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2.
Eine neue Recherche von NDR, WDR, Süddeutscher Zeitung und internationalen Medienpartnern zeigt, dass offenbar mehrere neue Spuren in Richtung Ukraine führen: Es geht um mutmaßliche Briefkastenfirmen. Und um eine Person mit möglichen Verbindungen zum ukrainischen Militär. Beteiligt an der Recherche sind die schwedische Zeitung "Expressen", das polnische Onlinemagazin "frontstory" und die dänische Tageszeitung "Berlingske".
"False-Flag-Operation"?
Die Ermittlungsschritte, die von der Segeljacht in die Ukraine führen, sind politischer Sprengstoff. Noch immer ist unklar: Könnte es sich tatsächlich um eine Racheaktion für den durch Russland gestarteten Angriffskrieg handeln? Oder verfolgen die Ermittler von anderen absichtlich gelegte Spuren - ist es also eine sogenannte "False-Flag-Operation"?
Schon kurz nach den Explosionen übernahm der Generalbundesanwalt (GBA) die Ermittlungen. Im März berichteten ARD und "Die Zeit" erstmals über die Segeljacht "Andromeda" und eine mutmaßliche Verbindung in die Ukraine: Fünf Männer und eine Frau seien Anfang September 2022 mit dem Boot von Rostock aus in See gestochen. Eine Firma aus Polen habe das Boot angemietet. Diese Firma wiederum gehöre Ukrainern, hieß es damals.
Weder deutsche, noch dänische oder schwedische offizielle Stellen äußerten sich inhaltlich zu den Ermittlungen.
Eine Briefkastenfirma?
Wie die Recherche von WDR, NDR, SZ und den internationalen Partnern jetzt zeigt, soll es sich bei der polnischen Firma, die die "Andromeda“ im September 2022 angemietet hat, offenbar um ein Reisebüro handeln. Laut polnischem Handelsregister hat das Unternehmen seinen Sitz in einem unscheinbaren Plattenbau im Warschauer Szeneviertel Powisle. Mehr als 100 Firmen sind auf diese Adresse angemeldet. Vor Ort bestätigt eine Frau, dass die Firma dort ansässig sei. Kontakt zu angeblichen Firmeninhabern halte sie jedoch nur per Mail - eine Telefonnummer liege ihr nicht vor.
Die vorliegenden Informationen lassen den Eindruck entstehen, dass es sich bei dem angeblichen Reisebüro, das über keine Website verfügt, um eine Briefkastenfirma handeln könnte. Offizielle Stellen in Polen wollten sich zu dem Reisebüro nicht äußern. Laut Geschäftsunterlagen machte die Firma in den vergangenen Jahren keine nennenswerten Umsätze. Im Jahr 2020 soll die Firma dann plötzlich 2,8 Millionen Euro eingenommen haben - womit ist unklar.
Seit September 2021 ist als Präsidentin und Anteilseignerin des angeblichen Reiseunternehmens eine Frau eingetragen. Auf Fotos im Internet sieht man eine blondierte Frau mittleren Alters. Heute soll sie in Kiew leben. Am Telefon zögert sie zunächst, bevor sie erklärt, Präsidentin der Firma zu sein. Sie werde aber auf keine Fragen eingehen und legt auf. Fragen, die per Mail geschickt wurden, blieben ebenfalls unbeantwortet.
Die Frau taucht noch bei zwei weiteren Firmen auf. Es ist allerdings zweifelhaft, ob sie tatsächlich mit diesen Geschäften etwas zu tun hat - oder ob sie lediglich als eine Art Strohfrau agiert. Darauf deutet einiges hin. Geheimdienste nutzen regelmäßig Briefkastenfirmen, um Operationen zu tarnen oder zu finanzieren. Denkbar, dass das Reisebüro lediglich dafür genutzt wurde, um die Segeljacht "Andromeda" zu mieten und zu bezahlen - um die tatsächlichen Hintermänner zu verschleiern. Sicher ist dies allerdings nicht.
Von der "Andromeda" geht aber noch eine weitere Spur aus - deutsche Sicherheitsbehörden sehen sie tatsächlich als brisant an, da sie in ukrainische Militärkreise führen soll: Bei der Anmietung der Jacht sollen zumindest einige der Personen, die später mit dem Boot auf der Ostsee unterwegs waren, Pässe vorgelegt haben. Darunter befand sich den Recherchen zufolge ein rumänischer Pass, ausgestellt auf den Namen "Stefan M.".
Ukrainischer Staatsangehöriger?
Eine Person mit diesem Namen und Geburtsdatum soll tatsächlich existieren, allerdings hat sie sich nach Erkenntnissen des BKA wohl zum Zeitpunkt der Explosionen ziemlich sicher in Rumänien aufgehalten. Wer aber war dann der Mann, der an der Ostsee auftauchte? Nach Recherchen von WDR, NDR, SZ und den Medienpartnern glauben deutsche Ermittler, es könnte sich um einen ukrainischen Staatsangehörigen handeln: um einen Mann, Mitte 20, aus einer Stadt südöstlich von Kiew. Sein Name ist dem Reporterteam bekannt.
Wer war der Mann, der an der Ostsee auftauchte? Laut deutschen Ermittlern könnte es sich um einen Ukrainer, mitte 20, handeln.
Fotos in sozialen Netzwerken zeigen einen jungen Mann, oft lächelnd, teilweise in Militäruniform mit Helm - und mit auffälligen Tätowierungen. Der junge Ukrainer soll früher in einer Infanterieeinheit gedient haben. Die Ermittler gehen offenbar noch weiteren Namen und Hinweisen nach. Es soll sich um die bislang heißesten Spuren handeln.
Lediglich eine Verwandte des jungen Mannes ist am Telefon zu erreichen: Sie sagt, er diene derzeit im Militär. Manchmal rufe er an. Aber sie sagt: Er habe im vergangenen Herbst die Ukraine nicht verlassen. Offizielle ukrainische Stellen antworteten bislang nicht auf Anfragen.
Verdächtige russische Schiffe
Es gibt noch andere Theorien zu dem Anschlag, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden. In den vergangenen Wochen wurde durch Recherchen mehrerer europäischer Medien bekannt, dass sich kurz vor den Explosionen verdächtige russische Schiffe in auffälliger Nähe zu den Röhren aufgehalten haben sollen. Es soll sich unter anderem um militärische und zivile Forschungsschiffe gehandelt haben, teilweise ausgestattet mit kleinen U-Booten oder Unterwasserdrohnen.
Diese Erkenntnisse sollen auch bei deutschen und skandinavischen Ermittlern seit einiger Zeit vorliegen. Es wurden offenbar Satellitenbilder und andere Überwachungsmethoden geprüft. Bislang allerdings, so heißt es in deutschen Sicherheitskreisen, gebe es keine Belege dafür, dass die russischen Schiffe tatsächlich an den Anschlägen beteiligt gewesen seien. Über konkrete Hinweise wie die Sprengstoffrückstände an Bord der "Andromeda" ist bei den anderen Spuren bislang aber offenbar nichts bekannt.
Auch Generalbundesanwalt Peter Frank hatte Anfang des Jahres in einem seiner seltenen Interviews betont, es sei nicht belegbar, dass Russland dahinterstecke. Aber, das machte Frank auch klar: "Die Ermittlungen dauern an." Russland, die USA, die Ukraine - alle haben bereits jegliche Beteiligung an den Explosionen zurückgewiesen. Auch eine neuerliche Anfrage bei der ukrainischen Botschaft blieb zunächst unbeantwortet. Der Ausgang bleibt weiter offen.