Nord-Stream-Ermittlungen Wer verantwortet die Geheimoperation?
Bei den Ermittlungen zu den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines führen die Spuren offenbar in die Ukraine. Doch die wichtigste Frage ist noch unbeantwortet: Wer ist verantwortlich?
Deutschen Ermittlern soll es gelungen sein, zumindest zum Teil zu rekonstruieren, wie der Anschlag auf die Pipelines in der Ostsee vorbereitet wurde. Dies berichteten ARD-Hauptstadtstudio, ARD-Kontraste, SWR und die "ZEIT". Im Laufe dieser Woche wurden weitere Einzelheiten aus den Ermittlungen bekannt, die von der Bundesanwaltschaft geleitet werden.
Aktuell sieht das Bild so aus: Die Ermittler konnten das Boot identifizieren, das ein Geheimkommando verwendet haben soll, um Sprengstoff zu den Tatorten zu transportieren. Der Generalbundesanwalt bestätigte am vergangenen Mittwoch, dass vom 18. bis 20. Januar ein Schiff durchsucht wurde, das "zum Transport von Sprengsätzen verwendet worden sein könnte".
Dieses Schiff mit Namen "Andromeda" soll den Recherchen zufolge mit einem Geheimkommando von Rostock aus in See gestochen sein. Die Ermittler sollen herausgefunden haben, dass dieses Kommando aus sechs Personen bestand, mutmaßlich einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin. Demnach übernahmen sie das Boot am 6. September im Hafen von Rostock und brachen danach von dort auf.
Weitere Recherchen bestätigen den Hergang
Im Laufe dieser Woche ergaben weitere Recherchen, dass es sich bei der "Andromeda" um ein 15 Meter langes Segelschiff handelt, das der deutschen Chartergesellschaft "Mola" auf Rügen gehört. Reportern von ARD-Kontraste wurde dies vor Ort bestätigt.
Bei den beiden professionell gefälschten Pässen, die den Ermittlungen zufolge bei der Anmietung hinterlegt wurden, handelte es sich nach Angaben von Beteiligten offenbar um falsche bulgarische Pässe. Über beides hatte zunächst der "Spiegel" berichtet. Die tatsächliche Nationalität der Mitglieder des mutmaßlichen Geheimkommandos ist derzeit noch unklar.
ARD-Hauptstadtstudio, ARD-Kontraste, SWR und die "ZEIT" hatten am Dienstag berichtet, dass die Yacht von einer Firma in Polen angemietet worden sein soll, die nach Erkenntnissen der deutschen Ermittler zwei Ukrainern gehört. Kontraste berichtete außerdem am Donnerstag, dass diese Firma in Polen finanzielle Unterstützung von einer anderen Firma in Westeuropa erhalten habe, die wiederum einen ukrainischen Geschäftsführer haben soll. Auch diese Information geht auf Erkenntnisse deutscher Ermittler zurück.
Sprengstoffspuren an Bord der "Andromeda"
Die Ermittler konnten die "Andromeda" den Recherchen zufolge am 7. September in Wiek auf Rügen lokalisieren. Zunächst hatten ARD-Hauptstadtstudio, Kontraste, SWR und die "ZEIT" berichtet, das Schiff habe in Wieck (Darß) Station gemacht, was sich jedoch als falsch herausstellte.
Bereits während der Recherche hatte es Widersprüche gegeben, ob es den Zwischenstopp auf dem Darß wirklich gegeben haben konnte, da der dortige Hafen nicht über den nötigen Tiefgang verfügt. Die Information wurde jedoch vor Veröffentlichung auf Nachfragen von mehreren Quellen bestätigt. Offenbar handelte es sich um eine Verwechslung.
Zu einem späteren Zeitpunkt konnten die Ermittler das Schiff erneut bei Christiansø lokalisieren, einer kleinen dänischen Insel nordöstlich von Bornholm, unweit der Orte, an denen die Pipelines zerstört wurden. Die dänischen Behörden bestätigten dem Dänischen Rundfunk, dass die dänische Polizei nach Fotos von Schiffen im Hafen von Christiansö gesucht hatte. Bei der forensischen Untersuchung der "Andromeda" durch die deutschen Ermittler im Januar sollen Sprengstoffspuren auf dem Tisch in der Kabine festgestellt worden sein.
Wie lange dauerte die Geheimoperation?
Die Ermittler sind demnach überzeugt, das richtige Boot gefunden sowie das Kommando identifiziert zu haben, das die Geheimoperation auf See durchgeführt haben soll. Allerdings bleiben zahlreiche wichtige Fragen offen: die Nationalität und Identität der Mitglieder des Kommandos sowie die Frage, was die "Andromeda" nach dem 7. September gemacht hat.
ARD-Hauptstadtstudio, ARD-Kontraste, SWR und der "ZEIT" ist nicht bekannt, wann das Schiff zurückgegeben wurde. Demnach ist unklar, wie lange die Operation auf See dauerte. Eine Information, die den Ermittlern hingegen bekannt sein dürfte.
Der dänische Datenanalyst Oliver Alexander hat anhand einer Webcam, mit der der Hafen von Rostock beobachtet werden kann, festgestellt, dass eine Yacht, bei der es sich um die "Andromeda" handeln könnte, den Hafen von Rostock am 7. September verließ. Laut Alexander ist das Schiff erst in den Tagen zwischen dem 19. und dem 26. September wieder nach Rostock zurückgekehrt. Beim 26. September handelt es sich um den Tag der Explosionen. Allerdings ist nicht zweifelsfrei sicher, dass es sich bei dem von dem dänischen Analysten identifizierten Boot tatsächlich um die "Andromeda" handelt.
Kritik an bisherigen Recherchen
In den vergangenen Tagen wurde die Recherche von ARD-Hauptstadtstudio, ARD-Kontraste, SWR und der "ZEIT" zum Teil heftig kritisiert. Insbesondere wird der Vorwurf erhoben, der geschilderte Hergang sei nicht plausibel, da das Boot für eine derartige Operation nicht geeignet sei - vor allem aufgrund der großen Mengen Sprengstoff, die nötig gewesen seien.
Nach den Recherchen gehen die Ermittler jedoch davon aus, dass deutlich geringere Mengen als die bisher in Medienberichten kursierenden Zahlen von bis zu 2000 Kilogramm verwendet wurden. Die Zeitung "Welt" berichtete außerdem, dass sich vom 5. bis 13. September der Tanker "Minerva Julie" in unmittelbarer Nähe der Tatorte befunden habe. Wäre die Geheimoperation also überhaupt möglich gewesen, ohne bemerkt zu werden?
Tatsächlich bleibt zwischen der Weiterfahrt der "Minerva" und dem Anschlag ein Zeitraum von 13 Tagen, in dem der Sprengstoff hätte platziert werden können. Unklar ist auch, ob es womöglich weitere Schiffe gab, die an der Operation beteiligt waren. Nach Angaben der Betreiberfirma wartete die "Minerva" bei Bornholm auf neue Anweisungen, ein in der Reederei nicht unüblicher Vorgang.
Ukraine bestreitet jegliche Beteiligung
Die ukrainische Regierung wies in den vergangenen Tagen wiederholt jede Verantwortung für den Anschlag auf die Pipelines von sich. Wie ARD-Hauptstadtstudio, Kontraste, SWR und die "ZEIT" von Anfang an betonten, gibt es bisher keinerlei Beweise, dass die ukrainische Regierung oder auch eine andere Regierung die Anschläge in Auftrag gegeben hätte.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Freitag: "Ukrainer haben das definitiv nicht getan." Ziel der Berichterstattung sei es, behauptete er, die westliche Hilfe für die Ukraine zu verlangsamen. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba zeigte sich in einem Interview mit der "Bild" überzeugt, die zeitgleiche Berichterstattung mehrerer Medien mache deutlich, dass es sich um eine "koordinierte Aktion" handle.
Die "New York Times" hatte ebenfalls am Dienstag berichtet, dass nach US-Geheimdienstinformationen eine pro-ukrainische Gruppe für die Anschläge verantwortlich sei, die ohne Wissen von Präsident Selenskyj gehandelt habe. Tatsächlich hatten sich ARD-Hauptstadtstudio, ARD-Kontraste, SWR und die "ZEIT" kurzfristig zu einer Veröffentlichung entschieden, als der "New York Times"-Bericht erschien, von dem sie bis zur Veröffentlichung keinerlei Kenntnis hatten.
Spuren in Richtung Ukraine
ARD-Hauptstadtstudio, ARD-Kontraste, SWR und die "ZEIT" haben sich in der Berichterstattung darauf beschränkt, die Erkenntnisse der deutschen Ermittler zu beschreiben. Den Recherchen wurde nach der Veröffentlichung von Seiten der Behörden weder öffentlich noch in internen Unterrichtungen widersprochen. Vielmehr wurden sie durch die Mitteilung der Bundesanwaltschaft über die Durchsuchung des tatverdächtigen Boots zum Teil bestätigt.
Dem "Spiegel" wurden die Angaben zum generellen Hergang ebenfalls bestätigt. Die Feststellung, dass Spuren in Richtung Ukraine führen, ist keine eigene Schlussfolgerung von ARD-Hauptstadtstudio, Kontraste, SWR und der "ZEIT", sondern das Fazit, das die Ermittler den Recherchen zufolge selbst aus ihren Erkenntnissen gezogen haben.