Krisenzeiten Wie viel Solidarität ist möglich?
Pandemie, Flutkatastrophe, Krieg: Die Krisen scheinen kein Ende zu nehmen. Viele Menschen sind erschöpft. Wieviel Solidarität ist in diesen Zeiten möglich? Ist sie irgendwann aufgebraucht?
Es ist kalt an diesem Nachmittag, als Arezoo Shoaleh ihre Plakate auf dem Pflaster der Ludwigsburger Fußgängerzone ausbreitet. Freiheit für inhaftierte Iranerinnen und Iraner, so die Forderung. Doch in der winterlichen Dämmerung sind die Plakate nur schwer zu lesen. Passanten hetzen vorbei, nur wenige bleiben stehen.
"Es ist keine leichte Zeit für Solidarität", sagt Shoaleh. "Es ist unglaublich, wie wenig Kraft die Menschen in diesen Tagen haben, noch mehr Elend zu hören." Umso mehr freut sie sich über jeden Einzelnen, der sich Zeit nimmt, mit ihr über die Schicksale im Iran zu sprechen.
"Junge Menschen gehen in Iran aus dem Haus und verabschieden sich, weil sie nicht wissen, kommen sie wieder, werden sie verhaftet - das ist extrem traumatisch", erklärt sie einer Frau, die wohl gerade ihre Weihnachtseinkäufe erledigt. Und sie ergänzt: "Iran braucht Aufmerksamkeit und Solidarität weltweit. Das ist das Wenigste, das wir tun können."
Solidarität ist begrenzt
Doch mit der Solidarität ist das so eine Sache. "Teilweise ist Solidarität erlernbar oder auch kulturell vorgegeben. Aber zu einem anderen Teil ist unsere Solidarität auch begrenzt. Man muss sie sich emotional leisten können", sagt Thomas Loew. Er leitet die Abteilung für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Regensburg. Irgendwann sei die solidarische Kapazität erschöpft, so Loew.
Und tatsächlich haben die vergangenen Jahre den Menschen in Deutschland viel abverlangt. Die Corona-Pandemie, die viele Menschen in die Isolation trieb, in die Vereinzelung - viele Todesopfer forderte und Ängste förderte. Lokale Katastrophen wie etwa die Flutkatastrophe im Ahrtal haben gezeigt, wie verwundbar uns Naturereignisse machen. Und dann, im Februar, der vielleicht größte Einschnitt seit Jahrzehnten: Krieg gegen die Ukraine, Krieg in Europa.
Eine Krise nach der anderen - und das für viele, die in Deutschland aufgewachsen sind, zum ersten Mal in ihrem Leben. "Wir haben seit den 1980er-Jahren eine Epoche des Glücks erlebt. Es ging uns wirtschaftlich gut, es ging stetig bergauf, vieles hat geklappt", so Loew. Nun sei es an der Zeit, sich bewusst zu machen, dass das Weltgeschehen schon immer ein Auf und Ab gewesen sei und dies auch weiterhin sein werde.
Emotionale Talsohle
In der Wahrnehmung vieler ist eine emotionale Talsohle längst erreicht. Unsicherheiten und Zukunftsängste haben selten mehr Menschen umgetrieben als in diesen Monaten. Seelische Nöte haben zugenommen, die Notfalltelefone laufen heiß, Depressionen und Angststörungen, auch unter Kindern und Jugendlichen, nehmen zu.
Schlechte Zeiten für die Solidarität, sollte man meinen. Interessanterweise sieht man bei der Caritas aber einen anderen Trend: In diesem Jahr sind allein 71 Millionen Euro für die Ukraine gespendet worden, berichtet das Hilfswerk. Das sei mehr als beispielsweise nach der Tsunami-Katastrophe in Südasien 2004.
Ist also doch noch Platz für Solidarität? Oder ist die Ukraine ein Sonderfall? Ein Grund für die hohe sei möglicherweise die räumliche Nähe, schreibt die Caritas. "Das Unvorstellbare ist eingetreten: ein Krieg in Europa, dessen Folgen wir auch spüren. Ganz konkret durch die ukrainischen Flüchtlinge, die zum Teil nach Deutschland kommen. Und indirekt über die Effekte von Preissteigerungen, Güter- und Energieknappheit."
Sinnvoller Rückzug
Je größer die Verbundenheit, desto größer die Solidarität, das meint auch Psychiater Loew. Allerdings sei die "emotionale Ressource" auch irgendwann aufgebraucht. Dass manch einer sich zurückziehe, die Nachrichten nicht mehr lesen, den Fernseher nicht mehr anschalten wolle angesichts all der Krisen, hält er nicht nur für verständlich, sondern sogar für sinnvoll.
"Wenn unser Stresssystem durch die äußeren Rahmenbedingungen zusätzlich aktiviert ist, haben wir weniger Spielraum, um auf andere zuzugehen. Es findet sozusagen eine natürliche Begrenzung statt, man zieht sich eher zurück", so Loew.
Politische Maßnahmen notwendig
Aus diesem Grund seien aus seiner Sicht auch politische Maßnahmen wie etwa die Gaspreisbremse oder Wohngeldförderungen absolut notwendig, "um Druck vom Kessel zu nehmen". sagt Loew. Denn wenn den Menschen diese Sorgen zumindest ein wenig genommen würden, hätten sie wieder mehr emotionale Kapazitäten, um sich mit anderen solidarisch zu zeigen. Mit den Menschen in der Ukraine etwa. Oder auch denen in Iran.
Solidarität, darauf hofft auch Arezoo Shoaleh in Ludwigsburg. "Wenn man sieht, mit welcher Brutalität die Menschen in Iran hingerichtet werden, kann man nicht wegschauen." Sie vertraut auf die Solidarität der Menschen: "Da ist noch was übrig. Und das ist es auch, was uns guttut und stärkt, weiterzumachen."