Aktivisten der Gruppe "Letzte Generation" blockieren den Großen Stern an der Siegessäule in Berlin.
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"Letzte Generation" ändert Strategie Der Kampf um Aufmerksamkeit

Stand: 17.11.2023 12:04 Uhr

Nach fast zwei Jahren Protest macht sich bei der "Letzten Generation" offenbar Enttäuschung und Erschöpfung breit: Das Führungsteam der Klimaschützer will nun laut MDR-Recherchen auch auf neue Formen des Protests setzen.

Von Ben Arnold, MDR

Die "Letzte Generation" ändert ihre Strategie. Das hat das Führungsteam in einem internen Video-Call ihren Mitgliedern bekannt gegeben. Festgehalten wurden die Pläne in einem Strategiepapier, das MDR Investigativ vorliegt. Daraus geht unter anderem hervor, dass die Gruppierung zukünftig etwa öffentliche Auftritte von Politikern als Bühne für ihren Protest instrumentalisieren will.

Für die Änderung der Strategie gibt es offenbar mehrere Gründe. Die Aktivisten hatten gehofft, dass ihre Blockaden und Klebeaktionen im Sommer zu einem "sozialen Kipppunkt" führen würden. Der Gedanke dahinter: Die Bewegung sollte wachsen und die Bevölkerung sich zu großen Teilen mit den Zielen der Klimaschutzbewegung solidarisieren.

Immer schwieriger, Öffentlichkeit herzustellen

Doch die Bewegung habe erkennen müssen, dass dies nicht eingetreten ist, so Kim Schulz, Mitglied des sechsköpfigen Kernteams der "Letzten Generation", in einem internen Video-Call. Eine Aufzeichnung dieses "Kompass-Calls" liegt MDR Investigativ vor. Demnach befände sich die Gruppe in einer Phase von gefühlter Enttäuschung und leide unter Erschöpfungserscheinungen.

Nach fast zwei Jahren des Protests habe eine Normalisierung stattgefunden. Gewalt gegen Aktivisten durch wütende Autofahrer würde immer seltener zu Empörung in der Öffentlichkeit führen. Gleiches gelte für überzogen harte Polizeieinsätze. Für die Gruppe würde es immer schwieriger, die für ihren Protest benötigte Öffentlichkeit herzustellen.

Gerichtsverfahren lähmen die Aktivisten

Hinzu kommt, so Schulz, dass sich vor allem der harte Kern der Gruppe zunehmend auch vor Gericht verantworten muss. Die Verfahren würden nicht nur Zeitressourcen binden, sondern seien auch emotional herausfordernd für die Angeklagten. Dadurch sei die Gruppe in ihrer Handlungsfähigkeit geschwächt.

So hat etwa allein die Staatsanwaltschaft Berlin bisher mehr als 2.500 Verfahren gegen Mitglieder der "Letzten Generation" eingeleitet. Die bisher höchste Strafe dabei: acht Monate Haft ohne Bewährung. Dieses Urteil fiel für die Teilnahme an drei Straßenblockaden.

Dazu laufen Ermittlungsverfahren gegen mehrere Mitglieder wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung. Es kam zu Telefonüberwachungen und Hausdurchsuchungen. Dieser Druck der Ermittlungsbehörden gehe auch an den Mitgliedern der "Letzten Generation" nicht spurlos vorbei, so Schulz. Eine Folge: Langfristig angelegte Blockadephasen und Klebeaktionen könnten ohne vorherige Rekrutierung neuer Mitglieder nur schwer durchgeführt werden. 

Neue Protestform orientiert sich an US-Vorbild

Auch deshalb will die "Letzte Generation" künftig vor allem auf neue, öffentlichkeitswirksame Proteststrategien setzen. Als Vorbild dient dabei unter anderem eine Klimaschutzbewegung aus den USA namens "Climate Defiance". Die seit März dieses Jahres aktive Gruppe hat sich darauf spezialisiert, Veranstaltungen von politischen Akteuren zu stören und diese als Bühne für ihren Protest zu nutzen.

Wie die "Letzte Generation" verfolgt sie damit eine Strategie des zivilen Ungehorsams - und es gibt auch einen gemeinsamen Geldgeber im Hintergrund: den "Climate Emergency Fund", eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Kalifornien, die weltweit Klimaschutzbewegungen finanziell unterstützt.

In der internen Runde hat die "Letzte Generation" nun bekanntgegeben, sich mit der Gruppe "Climate Defiance" über Protestformen ausgetauscht zu haben, insbesondere über den sogenannten "Konfrontationsprotest". In dem internen Strategiepapier, das MDR Investigativ vorliegt, wird dieser so beschrieben:

Eine Gruppe von mindestens zehn Menschen besucht ein Event, auf dem ein Politiker spricht. Sie verteilen sich im Publikum. An der richtigen Stelle steht eine Person von ihnen auf und konfrontiert den Politiker mit seinen Handlungen und Lügen. Sie lässt sich dabei nicht auf Diskussionen ein und lässt nicht zu, dass er sich rausredet. (…) Die anderen Menschen aus dem Publikum stehen auf und gehen rufend auf die Bühne. Die Securitys versuchen, die Menschen von der Bühne zu ziehen, doch diese gehen immer wieder zurück. Einige sind festgeklebt und können nicht von der Bühne gezerrt werden. Das Event muss abgebrochen werden.

Wirkung von Klebeaktionen nimmt ab

Dieser Strategiewechsel bei Widerstandsgruppen wie der "Letzten Generation" kommt für Protestforscher nicht überraschend. Der Soziologe Graeme Hayes forscht an der Aston University in Birmingham zu den Protestformen der Klimaschutzbewegung und sagt: "Die Bewegung ist davon ausgegangen, dass es, wenn Aktivisten ins Gefängnis gehen, zu großen Solidaritätsbekundungen seitens der Zivilgesellschaft kommen würde. Aber den erhofften öffentlichen Aufschrei hat es nicht gegeben."

Die öffentliche Wirkung von Klebeaktionen und Straßenblockaden nehme ab, so Hayes, auch weil die Polizei inzwischen besser auf die Proteste vorbereitet sei. Dazu würden die Aktivisten immer öfter zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Für Hayes stellt sich die Frage, wie die Klimaschutzbewegungen darauf reagieren wird, ob und inwieweit es auch innerhalb der Bewegungen des zivilen Ungehorsams zu einer weiteren Radikalisierung komme: "Wenn die Regierung versucht, den Protest durch Maßnahmen der Polizei und der Justiz zu verhindern, was werden die Aktivisten als nächstes tun? Ich denke, das wird das Thema in den kommenden Jahren."

Berlin soll orange gefärbt werden

Die "Letzte Generation" zumindest, das folgt aus dem Strategiepapier, will von einer weiteren Radikalisierung absehen und distanziert sich gegenwärtig von Sabotageaktionen. Noch im vergangenen Jahr hatte die Gruppe unter anderem Ölpipelines zugedreht. Diesbezügliche Verfahren wegen des Verdachts auf Sabotage sind noch nicht abgeschlossen.

Festhalten will die Gruppe an Protestmärschen, Blockaden und auch an "High Level Protesten", wie etwa Blockaden von Flughäfen. Dazu sollen möglichst große Teile von Berlin orange gefärbt werden. "Orange Uprising" heißt das in der Sprache der Bewegung. Laut Strategiepapier ist der Höhepunkt dieser Aktionsform für die letzte Novemberwoche geplant.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 10. November 2023 um 18:40 Uhr.