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Vorratsdatenspeicherung Gutachten sieht Verstoß gegen EU-Recht

Stand: 08.04.2022 06:48 Uhr

Ein neues Gutachten stuft die Vorratsdatenspeicherung als teilweise rechtswidrig ein. Dem SWR liegt das Papier vorab vor. Demnach darf es keine Überwachung ohne konkrete Bedrohung geben.

Von Nick Schader, SWR

Die von Sicherheitsbehörden und den meisten europäischen Staaten gewünschte Vorratsdatenspeicherung verstößt zum Teil gegen EU-Recht. Zu diesem Ergebnis kommt der langjährige Richter am europäischen Gerichtshof (EuGH) Prof. Vilenas Vadapalas. Er hat dazu gerade ein Rechtsgutachten erstellt, dass dem SWR vorab vorliegt.

Unter Vorratsdatenspeicherung versteht man unter anderem das flächendeckende Sammeln von Telefon- und Internetdaten, wie z.B. Standortdaten oder IP-Adressen von Nutzern - und zwar auch von Bürgern, die noch nie straffällig geworden sind.

Keine Überwachung ohne konkrete Bedrohung

Laut dem jetzt vorgelegten Gutachten verstoßen zwei zentrale Punkte der Vorratsdatenspeicherung gegen EU-Recht. Aus Sicht des Ex-EuGH-Richters Vadapalas genügt es nicht, dass EU-Staaten allgemein auf eine Gefahrenlage oder Terrorgefahr verweisen, um eine Vorratsdatenspeicherung anzuordnen. Die Staaten müssten vielmehr eine akute Gefahr, wie zum Beispiel drohende Terroranschläge, ganz konkret belegen. Nur unter dieser Voraussetzung sei die Datenspeicherung mit EU-Gesetzen überhaupt vereinbar. 

Weiterer Kritikpunkt: Die Datenspeicherung sei nur für einen eng begrenzten Zeitraum erlaubt. Nämlich für den Zeitraum, für den eine ganz "konkrete Bedrohung" der nationalen Sicherheit bestehe. Das dauerhafte, fortlaufende Datensammeln durch Sicherheitsbehörden verstoße daher ebenfalls gegen EU-Recht.

Zu einem ähnlichen Ergebnis war auch der europäische Gerichtshof gekommen und hat erneut ein Urteil gefällt, in dem er der flächendeckenden Datenspeicherung eine Absage erteilt. Unter gewissen Voraussetzungen könne man aber Ausnahmen erlauben, zum Beispiel, wenn die Vorratsdatenspeicherung nur an bestimmten, "gefährlichen" Orten durchgeführt werde.

EuGH: Urteil zur Vorratsdatenspeicherung

Patrick Breyer kämpft seit Jahren als EU-Abgeordneter der Piratenpartei gegen die Vorratsdatenspeicherung. Aus seiner Sicht bestätigt das aktuelle Gutachten seine Kritik an der Datensammelei der Sicherheitsbehörden. "Die Überlegungen der EU-Kommission, die große Mehrheit der EU-Bevölkerung durch eine flächendeckende, geografisch gezielte Vorratsdatenspeicherung zu erfassen, halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Und ein permanenter Ausnahmezustand kann zu ihrer Rechtfertigung auch nicht konstruiert werden."

Vorratsdatenspeicherung als Ausnahme?

Auf Anfrage teilt die Datenschutz-Organisation Digitalcourage mit, man halte die "anlasslose Vorratsdatenspeicherung" ebenfalls für nicht vereinbar mit den europäischen Gesetzen. Man sehe die Gefahr, dass einige Staaten Ausnahmeregelungen missbrauchen, um die flächendeckende Datenspeicherung dennoch durchzusetzen. Zum Beispiel durch das Sammeln von Personendaten zunächst an Orten mit "Kriminalitätsschwerpunkt" - um das System dann nach und nach auszuweiten: "Diese Ausnahmeregelungen gehen auch auf den massiven Druck zurück, den Mitgliedsstaaten seit Jahren auf den EuGH ausüben", so ein Sprecher von Digitalcourage. "Wie mit der Brechstange wird hier immer wieder versucht, Stück für Stück das Verbot anlassloser Massenüberwachung auszuhöhlen."

Doch es gibt auch Befürworter der Massenüberwachung. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) hat sich auf Anfrage des SWR klar für die Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Ohne die Speicherung von Daten, auch ohne konkreten Verdacht, könne man die geforderten Ermittlungserfolge nicht erzielen. "Wir brauchen dringend eine nachvollziehbare Speicherung von IP-Adressen", so BdK-Sprecher Oliver Huth. Ohne diese Daten könnten "die von der Politik priorisierten Kriminalitätsfelder (Kindesmissbrauch, Hasskriminalität im Netz) nicht nachhaltig bekämpft werden". 

Jeder Mausklick kann überwacht werden

Das Bundesinnenministerium teilte auf SWR-Anfrage mit, man halte die "anlasslose Vorratsdatenspeicherung" für ein "wichtiges Instrument für eine effektive Strafverfolgung". Ein Verstoß gegen EU-Recht sieht man beim Innenministerium nicht. Aus Sicht des Ministeriums habe der europäische Gerichtshof grünes Licht gegeben für eine "allgemeine und unterschiedslose Speicherung von IP-Adressen (unabhängig von einer bestimmten Bedrohungslage)". 

Im Fokus der Vorratsdatenspeicherung steht die IP-Adresse. Vereinfacht gesagt handelt es sich dabei um die technische Adresse (eine bis zu 12-stellige Zahl), unter der ein Computer im Internet angemeldet ist. Diese Adresse zu speichern und im Internet zu verfolgen, wäre in der Praxis ein mächtiges Werkzeug, um Nutzer vollständig überwachen zu können. Im Prinzip wäre es möglich, jeden Mausklick, jede Internetsuche oder jede besuchte Internetseite heimlich zu dokumentieren - und die Informationen wären auch Wochen oder Monate später noch abrufbar. Ebenso ist es möglich, über die IP-Vorratsdatenspeicherung auch Mail-Kommunikation zu beobachten oder Bewegungsprofile zu erstellen. 

"Eine IP-Vorratsdatenspeicherung nimmt auch unbescholtenen Bürgern den Schutz der Anonymität im Netz", kritisiert der EU-Abgeordnete Breyer. "Dabei wurde durch die Sicherheitsbehörden noch nie nachgewiesen, dass mit dieser Datenspeicherung die Aufklärungsquote bei Verbrechen, wie Kinderpornografie, tatsächlich nennenswert steigt. Daher lehne ich diese Massenüberwachung strikt ab."

Die deutschen Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung sind zwar in Kraft, werden aber laut Innenministerium "wegen laufender Gerichtsverfahren derzeit nicht durchgesetzt". In einigen Wochen wird ein weiteres Urteil des europäischen Gerichtshofes erwartet, dass sich dann mit der rechtlichen Situation speziell in Deutschland beschäftigen wird. 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 05. April 2022 um 12:13 Uhr.