Irrtümliche Tötung von Geiseln "Die Bevölkerung ist geschockt"
Die irrtümliche Tötung von drei israelischen Geiseln durch die eigene Armee hat im Land einen Schock ausgelöst, sagt Ex-Botschafter Avi Primor im tagesschau.de-Interview. Das werde aber nichts an der Kriegsführung im Gazastreifen ändern.
tagesschau.de: Wie ist Ihrer Wahrnehmung nach die irrtümliche Tötung von drei Geiseln, die am Wochenende bekannt geworden ist, in der israelischen Gesellschaft aufgenommen worden?
Avi Primor: Das war und ist immer noch ein Schock für die Bevölkerung. Es gibt aktuell drei Themen, die uns beschäftigen: der Krieg, die Geiseln bei der Hamas und die drei Geiseln, die unsere Soldaten erschossen haben. Darüber wird ununterbrochen gesprochen und in den Medien diskutiert. Die Armee ist sehr offen und ehrlich mit diesem Vorfall umgegangen. Der Oberbefehlshaber der Streitkräfte hat erklärt, dass das nicht nur ein Fehler war, sondern viel schlimmer als ein Fehler.
Und die Bevölkerung ist geschockt, nicht nur, weil unsere Leute erschossen worden sind. Sondern auch, weil ihr klar geworden ist, dass Leute erschossen wurden, von denen man dachte, dass sie Palästinenser seien, die sich aber ergeben hatten. Daraus ergibt sich die Frage: Wenn palästinensische Kämpfer, wenn Hamas-Leute sich ergeben, erschießt man sie oder nimmt man sie als Gefangene? Das ist ein großes Thema in der israelischen Öffentlichkeit.
Avi Primor war von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland. Der 88-Jährige wurde für sein Wirken vielfach ausgezeichnet und ist u.a. Träger des Bundesverdienstkreuzes.
tagesschau.de: Verändert das die Debatte über die Kriegsführung im Gazastreifen?
Primor: Der Vorfall verändert die Debatte nicht, weil er die Tatsachen nicht verändert. Ich gehe davon aus, dass die Soldaten heute etwas vorsichtiger sein werden und Palästinenser, die sich ergeben, nicht sofort erschießen werden. Aber an der allgemeinen Lage in dem Krieg ändert das gar nichts.
tagesschau.de: Trotzdem haben Sie ja einen Schock aus gleich mehreren Gründen beschrieben. Bleibt das ganz ohne Folgen - zum Beispiel für die Frage, ob es eine weitere Waffenruhe und einen Austausch von Geiseln und Häftlingen geben kann?
Primor: Darüber gibt es ja Verhandlungen. Die Frage ist, über was wird verhandelt? Die Hamas will schon eine Vereinbarung mit uns, einen Austausch von Gefangenen. Aber sie will damit auch den Krieg beenden. Und unsere Regierung will den Krieg keineswegs beenden, nicht bevor sie die Macht der Hamas zerstört hat. Sie will den Gazastreifen nicht verlassen, solange die Hamas dort irgendeine Form von Macht hat.
Die Hamas will eine Feuerpause beziehungsweise ein Ende des Kriegs, damit sie sich und ihre Strukturen wieder aufbauen kann. Und da gibt es natürlich mehr als nur Meinungsverschiedenheiten.
"Beide Ziele schließen sich aus"
tagesschau.de: Wenn die Ziele so weit auseinander liegen, ist dann eine weitere Feuerpause überhaupt realistisch?
Primor: Bei der ersten Vereinbarung war klar, dass das eine vorübergehende Feuerpause sein würde und nicht mehr. Unter dieser Voraussetzung konnten wir uns mit der Hamas verständigen. Jetzt geht es nicht nur um Austausch von Gefangenen, sondern auch um die Zukunft des Krieges. Wir wollen weiterkämpfen. Und die Hamas will eine langjährige Feuerpause und keinen Krieg mehr, bis sie sich wieder aufgebaut haben.
tagesschau.de: Das ist aber nicht miteinander zu vereinbaren.
Primor: Beide Ziele schließen sich aus. Deswegen dauern die Verhandlungen so lange, weil es auch um die Zukunft des Krieges geht. Aber ich vermute, dass wenn überhaupt die Hamas irgendwann unter dem Druck der Ägypter, der Amerikaner und anderer, ein wenig nachgeben und doch eine Feuerpause akzeptieren wird, die nur vorübergehend sein, um Geiseln und Gefangene auszutauschen.
"Bin mir nicht sicher, dass die Amerikaner das wirklich wollen"
tagesschau.de: Die USA, der engste Verbündete Ihres Landes, haben ungewöhnlich deutlich Kritik an der Kriegsführung Israels im Gazastreifen geübt. Präsident Joe Biden hat von wahllosen Bombardements gesprochen. Wirkt das irgendwie auf die israelische Regierung?
Primor: Die israelische Regierung will nicht nachgeben. Die Frage ist, wie stark der amerikanische Druck sein wird. Denn je länger wir kämpfen, desto mehr sind wir von den US-Amerikanern abhängig. Wir bekommen Munition und Ersatzteile und anderes mehr, die für den Krieg und unsere Armee unentbehrlich sind. Und wenn die Amerikaner wirklich Druck ausüben wollen, dann müssen wir nachgeben. Die Frage stellt sich, wie ehrlich die Amerikaner sind, wenn sie eine Waffenpause verlangen. Ich bin nicht sicher, dass die Amerikaner es wirklich wollen.
tagesschau.de: Was lässt Sie daran zweifeln?
Primor: Was die israelische Regierung will, ist klar und auch offen ausgesprochen. Aber US-Präsident Joe Biden steht in den USA auch unter Druck. Er hat ein Wahljahr vor sich, und in diesem Wahljahr muss er vorsichtig sein, weil nicht alle Amerikaner ihn in dieser Sache unterstützen.
Was passiert nach dem Krieg?
tagesschau.de: Und wenn wir den Blick auf die langfristigen Perspektiven für Israel und für den Gazastreifen richten, haben Sie den Eindruck, dass sich auch nur Konturen dessen zeigen, wie es nach dem Krieg weitergehen könnte?
Primor: Hier gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Es gibt bekannte, einflussreiche Leute, die behaupten, die Lage in Israel werde nach dem Krieg schlimmer sein. Wir hatten schon vor dem Krieg ein Problem mit den sogenannten Reformen, die Premierminister Netanyahu durchsetzen wollte und die die Beschränkung der Demokratie - noch weitgehender als in Ungarn - bedeuten würden. Und hier gibt es Stimmen, die befürchten, dass Netanyahu nach dem Krieg mit seinen Reformen noch viel schneller noch viel weiter gehen wird. Das würde das Ende der israelischen Demokratie bedeuten.
Andere wiederum glauben, dass es nach dem Krieg wieder wie vor dem Krieg große Demonstrationen geben wird, die Netanyahu zu einer Neuwahl drängen werden. Und wenn das der Fall ist, wird er die Wahlen verlieren, weil er heute in den Meinungsumfragen sehr schlecht abschneidet.
tagesschau.de: Und was glaubt Avi Primor?
Primor: Ich glaube, dass die Demonstrationen weitergehen werden, dass sie noch größer werden und dass Netanyahu dann ziemlich unter Druck sein wird. Es wird dann auch davon abhängen, ob er seine heutige Koalition zusammenhalten kann, in der schon viel Unzufriedenheit herrscht. Wenn er die Koalition nicht zusammenhalten kann, verliert er die parlamentarische Mehrheit und muss Wahlen abhalten.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de