Zwei Leichen liegen auf einer Straße in Butscha, Ukraine.
Kommentar

Ukraine-Krieg Putin darf den Krieg nicht gewinnen

Stand: 04.04.2022 15:47 Uhr

Die Bilder von ermordeten Zivilisten im ukrainischen Butscha markieren einen Wendepunkt des Krieges. Wenn Deutschland jetzt nicht mit einem Energieboykott reagiert, wird es sich das selbst nie verzeihen.

Ein Kommentar von Kai Küstner, ARD Berlin

Wladimir Putin darf diesen Krieg nicht gewinnen. Unter keinen Umständen. Wenn es so etwas wie eine Lehre aus dem Horror von Butscha gibt, dann diese. Wer wehrlosen Zivilisten die Arme auf den Rücken fesselt, um ihnen in den Hinterkopf zu schießen, der ist auf Auslöschung, auf Vernichtung einer Nation, womöglich auf einen Genozid aus. Das haben die grauenerregenden Bilder Deutschland und der Welt vor Augen geführt. Insofern markiert Butscha einen Wendepunkt.

Schlägt sich das aber im deutschen und europäischen Handeln jetzt nicht nieder, darf Putin das als Aufforderung verstehen, unbeirrt weiter morden und massakrieren zu können. Das heißt also: wenn Kanzler Olaf Scholz für sich beansprucht, eine "Zeitenwende" im Umgang mit Moskau eingeleitet zu haben, dann sollte diese "Zeitenwende" jetzt auch bei Waffenlieferungen und Sanktionen spürbar werden.

Energieboykott gegen Putin jetzt

Die Bundesregierung wird sich das nie verzeihen, sollte sie in ein paar Wochen oder Monaten feststellen, sie hätte nicht alles Menschenmögliche getan, um Putins Vernichtungsfeldzug Einhalt zu gebieten. Das gilt übrigens nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch aus ganz eigennützigen: Gewinnt Russland in der Ukraine, könnte es seine imperialen Gelüste bald in Moldau und Georgien ausleben. Eine Garantie, dass dann nicht als nächstes das Baltikum an der Reihe wäre, gibt es nicht. Deshalb gilt es, das rote Stopp-Schild für Putin jetzt sofort und so sichtbar in die Erde zu rammen, dass auch er es nicht übersehen kann. Würden ausnahmsweise einmal Deutschland und Europa Putin damit überraschen - und nicht umgekehrt - dürfte das seine Wirkung nicht verfehlen.

Dass Europa dem Mann im Kreml täglich rund 600 Millionen Euro für Energielieferungen überweist, ist bekannt. Angesichts der Bilder aus Butscha ist es unerträglich geworden. Sicherheitspolitisch absurd ist es ohnehin: Deutschland pumpt Putins Staatskassen mit jenen Devisen voll, die er dann einsetzt, um auch uns und unsere NATO-Partner zu bedrohen. Dieser selbstzerstörerische Geldfluss muss aufhören. Jetzt.  

Deutschlands Ruf steht auf dem Spiel

Nun ist es vorigen Bundesregierungen geschuldet, dass Deutschland sich in Sachen Energie verletzbar und von Russland erpressbar gemacht hat. Das Ringen der Ampel-Koalition mit sich selbst und einem Öl- und Gasboykott ist also in Teilen nachvollziehbar, sind doch die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen nur schwer prognostizierbar.

Doch Deutschland hat im Moment weit mehr zu verlieren als an Wirtschaftskraft: Sein Ruf als verlässlicher EU- und NATO-Partner steht auf dem Spiel. Schon jetzt ist die Fassungslosigkeit, nicht nur in der Ukraine, sondern in ganz Osteuropa angesichts schleppender Waffenlieferungen aus Deutschland gewaltig. Auch hat noch kein Wirtschaftsweiser errechnet, was es kosten würde, wenn Putin sich zu einer Verlängerung des Kriegsgeschehens oder weiteren Eroberungen ermutigt fühlt.

"Zu-wenig-zu-spät"-Kreislauf durchbrechen

Die Krim-Annexion 2014 und der Abschuss eines europäischen Passagierflugzeugs haben Deutschland nicht davon abgehalten, die Pipeline Nord Stream 2 mit Russland unbeirrt weiter zu bauen. Auch die Massaker an Zivilisten in Syrien, die Giftgasangriffe hatten keine einschneidenden Sanktionen zur Folge. Jetzt hat Deutschland - auf das ganz Europa schaut - die einmalige Chance, den ewigen "Zu-wenig-zu-spät"-Kreislauf zu durchbrechen und zu beweisen, dass es die "Zeitenwende" auch wirklich ernst meint. Weil der Preis eines Putin’schen Sieges zu hoch wäre.

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Kai Küstner, Kai Küstner, ARD Berlin, 04.04.2022 14:55 Uhr