Urteil zu EZB-Anleihekäufen Karlsruhe zieht die Notbremse
Karlsruhe akzeptiert erstmals ein Urteil des EuGH nicht - und stellt Bedingungen für die weitere Beteiligung der Deutschen Bundesbank EZB-Anleihenprogramm. Eine heftige Konfrontation mit ungewissem Ausgang, analysiert Frank Bräutigam.
Dass an diesem Tag etwas anders als sonst ist, merkt man schon beim Einzug der Richterinnen und Richter. Nicht wie üblich acht, sondern nur fünf kommen um Punkt zehn Uhr in den Gerichtssaal - Corona-Abstand auch auf der Richterbank. Per Los hatte man ausgewählt, alles korrekt natürlich. Aber das gab es noch nie. Und auch der Inhalt des Urteils fällt unter die Kategorie "das gab es noch nie". Karlsruhe verweigert erstmals dem Europäischen Gerichtshof die Gefolgschaft. Und setzt Bedingungen für eine weitere Beteiligung der Deutschen Bundesbank am EZB-Programm. Aber der Reihe nach.
Macht die EZB mehr als sie darf?
Kern des Streits um die Staatsanleihen ist ja: Macht die EZB hier mehr, als sie nach den EU-Verträgen rechtlich darf? Übernimmt sie Aufgaben, für die eigentlich die Mitgliedsstaaten oder der Rettungsschirm zuständig sind? Genau an dieser Stelle kommt das Grundgesetz ins Spiel. Laut Verfassung darf Deutschland bestimmte Kompetenzen an die EU übertragen - zum Beispiel die Geldpolitik, also die Aufrechterhaltung stabiler Preise, an die EZB.
Quasi im Gegenzug muss sich die EZB dann auch in dem ihr übertragenen Kompetenzrahmen bewegen und nicht darüber hinausgehen. Denn sonst hätte - vereinfacht gesagt - der deutsche Wähler ja nicht zugestimmt. Das sind wichtige Fragen gerade bei einer Institution wie der EZB, die unabhängig ist und von keiner Volksvertretung kontrolliert wird.
Europäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht nicht einig
Komplizierter wird es bei der Frage: In welches Kästchen fallen denn nun die EZB-Programme zum Ankauf von Staatsanleihen? Ist es erlaubte Geldpolitik? Oder der EZB verbotene Wirtschaftspolitik? Praktisch ist das gar nicht so leicht festzustellen. Und rechtlich scheiden sich genau daran die Geister der hohen Gerichte.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat gesagt: Rechtlich ist alles in Ordnung. So ein Programm habe zwangsläufig auch gewisse wirtschaftliche Auswirkungen, aber deswegen überschreite die EZB nicht ihr Mandat. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sagt dagegen: Nein, das sei nicht erlaubte Wirtschaftspolitik.
Karlsruhe beruft sich auf das "letzte Wort"
So ein inhaltlicher Dissens allein wäre noch kein Problem. Karlsruhe hatte sich in früheren Urteilen zum Thema Europa aber immer auch eine Art "Notbremse" offengelassen - das Recht zum "letzten Wort" für bestimmte Fälle. So wie andere Verfassungsgerichte der EU-Staaten übrigens auch.
Voraussetzung ist, dass der EuGH bei der Bewertung eines Falles aus Karlsruher Sicht ganz offensichtlich und komplett falsch liegt. Dann gilt so ein Urteil oder anderer Rechtsakt in Deutschland nicht. Diese Notbremse hat das BVerfG heute erstmals in seiner Geschichte gezogen. Der EuGH sei seiner Kontrollaufgabe gegenüber der EZB überhaupt nicht nachgekommen, weil er die tatsächlichen wirtschaftlichen Auswirkungen des Programms gar nicht einbezogen hätte. Das sei methodisch nicht mehr vertretbar.
EZB hat Programm nicht begründet
Weil das Urteil daher für Deutschland keine bindende Wirkung hat, kann sich das BVerfG in einem zweiten Schritt der EZB selbst zuwenden. Die Kritikpunkte sind ähnlich: Die EZB habe überhaupt nicht begründet, warum das Programm verhältnismäßig sei und die erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen auf alle Bürgerinnen und Bürger gerechtfertigt. Wenn die nirgendwo niedergeschrieben sei, könne es auch kein Gericht richtig kontrollieren.
Wann darf die Bundesbank mitwirken?
Und die Folgen? Das BVerfG kann als nationales Gericht der EZB als EU-Institution keine direkten Vorgaben machen - den deutschen Behörden und Staatsorganen, zum Beispiel der Deutschen Bundesbank, aber schon. Es gilt nun eine Übergangsfrist von drei Monaten. Wenn die EZB in dieser Zeit nicht in einem neuen Beschluss fasst und darin nachvollziehbar ihre Gründe für das Programm dokumentiert, und warum es verhältnismäßig ist, dann darf die Bundesbank bei dem Programm nicht mehr mitmachen. Es könnte weiterlaufen, aber eben ohne den größten EU-Mitgliedsstaat Deutschland. Das wäre ein empfindlicher Einschnitt.
Konfrontation oder weiter Kooperation?
Diese ganz konkreten Folgen sind das eine. Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Ebene dahinter, nämlich das angekratzte Verhältnis von BVerfG und EuGH. Karlsruhe hat bei vielen Verfahren zum Thema Europa nicht erst seit der Eurokrise 2011 als treibende Kraft mit dem Ziel agiert, dass auch das Recht in der EU eine wichtige Währung ist und der Zweck nicht jedes Mittel heiligen darf, auch in der Krise. Die EZB handelt zum Beispiel nicht im rechtsfreien Raum, sondern unterliegt gerichtlicher Kontrolle. Nach und nach hatte sich ein vielfach beschworenes "Kooperationsverhältnis" zwischen den Gerichten herausgebildet. Im konkreten Fall ist es nun aber zu einer durchaus deftigen Konfrontation gekommen.
Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle hat nun betont, dass es sich um einen absoluten Ausnahmefall handelt. Das Recht zum "letzten Wort" verlöre aber seinen Sinn, wenn man niemals davon Gebrauch machen würde. Klar ist, dass man in Luxemburg alles andere als erfreut, aber wegen der Vorgeschichte auch nicht richtig überrascht sein wird. Sicher hätte man die Karlsruher Bedenken dort auch noch ernster nehmen können, das hätte den Konflikt entschärft. Welche Auswirkungen das EZB-Urteil auf das Verhältnis der beiden Gerichte haben wird, ist eine spannende Frage für die kommenden Monate und Jahre.