Flucht aus Afghanistan Ein Land verliert seine Jugend

Stand: 15.10.2015 17:10 Uhr

Ein Volk ist in Bewegung - Experten sprechen mit Blick auf Afghanistan gar von einem Exodus. Die meisten Flüchtlinge irren im eigenen Land herum. Diejenigen, die das nötige Geld haben, begeben sich in die Hände von Schleppern, um Europa zu erreichen.

Abdullah und Hamidullah sind Mitte 20, haben Geowissenschaften und Soziologie studiert und wollen raus. Raus aus Kabul, raus aus Afghanistan: "Ich will nach Deutschland, da ist es sicher, da helfen sie mir, da kriege ich Arbeit", sagt Abdullah lächelnd. Sein Bruder ergänzt: "Wenn die Lage besser wäre, würden wir nicht fliehen. Keiner verlässt seine Heimat freiwillig. Aber was sollen wir denn machen? Wenn wir hier rausgehen, kann jederzeit eine Bombe explodieren, wir kriegen keine Arbeit. Es ist besser, einmal auf der Reise zu sterben, als jeden Tag hier zu sterben."


Die beiden haben Schlepper beauftragt. Pro Person werden 15.000 Dollar fällig - für eine Reise ins Ungewisse. Über den Iran in die Türkei, und dann über Griechenland und den Balkan weiter nach Deutschland. Das ist der Plan.

"Es ist ein Exodus!"

Richard Danziger leitet das Afghanistan-Büro der Internationalen Organisation für Migration, kurz IOM, in Kabul. Die IOM analysiert weltweit Flucht- und Migrationsbewegungen. "Wir haben es hier mit einem Exodus zu tun, aber wir haben keine konkreten Zahlen. Wir wissen nur, wie viele Menschen in Europa ankommen. Wir wissen, dass deutlich mehr Bustickets Richtung Iran verkauft werden. Wir wissen, dass die Flüge nach Teheran voll sind mit jungen Männern, während die Rückflüge leer sind. Ja, das ist ein Exodus, aber wir kennen die Zahlen nicht."

In den ersten neun Monaten dieses Jahres haben knapp 80.000 Afghanen in EU-Ländern Asyl beantragt, davon knapp 17.000 in Deutschland. Viele Afghanen, die jetzt in Deutschland ankommen, haben sich schon vor Wochen oder Monaten auf den Weg gemacht. Es ist eine Flucht in Etappen, auch um zwischendurch neues Geld zu verdienen.

"Afghanistan verliert sein Humankapital"

Nur so viel ist sichtbar: Der Kampf um Kundus hat die Fluchtbewegung verstärkt. Die nördliche Provinzhauptstadt, in der die Bundeswehr zehn Jahre lang stationiert war, fiel Ende September für mehrere Tage in die Hände der Taliban.

Danziger spricht von einem gefährlichen Kreislauf. "Wir haben deutliche Hinweise auf steigende Zahlen. Wir werden jetzt vielleicht ein Muster finden, dass alle, die in Europa ankommen, sagen werden, dass sie aus Kundus sind. Weil Europa gerade über Kundus spricht. Es ist eine Mischung aus der fehlenden Sicherheit und der schlechten Wirtschaftslage. Das eine verstärkt das andere. Wenn ein Gebiet unsicher ist, gibt es keine Arbeitsplätze. Und wenn es keine Jobs gibt, wird das Gebiet anfälliger für Aufständische. Verstärkend hinzu kommt der Glaube daran, dass Deutschland alle aufnimmt. Afghanistan verliert sein Humankapital. Es ist ein Zeichen des schwindenden Vertrauens. Es ist ein massives Problem."

Jedes Jahr strömen bis zu 500.000 junge Menschen auf den afghanischen Arbeitsmarkt, der nur wenig zu bieten hat. Durch den Abzug der internationalen Kampftruppen sind viele Arbeitsplätze weggebrochen. Die, die gehen, gehören zu denen, die am besten ausgebildet sind. Sie fehlen zum Aufbau des schwachen Staates.

Die große Mehrheit der afghanischen Flüchtlinge ist arm. Für sie ist Deutschland unerreichbar. Mehr als 800.000 Afghanen sind im eigenen Land auf der Flucht. Rund 2,5 Millionen Afghanen schlagen sich in den Nachbarländern Pakistan und Iran durch.