Ist Afghanistan sicher? Angst - jeden Tag
"Jeden Morgen, wenn wir das Haus verlassen, wissen wir nicht, ob wir abends zurückkehren": So schildern Einwohner Kabuls ARD-Korrespondentin Petersmann ihren Alltag - einen Alltag, der nicht zum Bild der Bundesregierung von einem zumindest teilweise sicheren Afghanistan passt.
tagesschau.de: Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat die Rückführungen der Flüchtlinge als "richtig und notwendig" beschrieben". Doch wie zutreffend ist diese Einschätzung? Kann man Afghanistan - oder zumindest Regionen des Landes - als sicher bezeichnen?
Petersmann: Die Bundesregierung müsste für mich einmal den Begriff Sicherheit definieren. Da habe ich persönlich eine andere Auffassung als die Regierung.
Ich halte die Sicherheitslage im Land für sehr fragil. In vielen Provinzen wird noch massiv gekämpft. Die Regierungstruppen kontrollieren nur etwa 60 Prozent des Landes - die restlichen Regionen sind umkämpft oder in den Händen der Taliban. Von rund 90 Gruppen, die auf der Sanktionsliste der Vereinten Nationen als Terrorgruppen verzeichnet sind, befinden sich rund 20 in Afghanistan.
Auch in den Städten, die von der Bundesregierung als sicher eingestuft werden - sie führt Städte wie Kabul oder Masar-i-Scharif als leuchtende Beispiele für Sicherheit an - ist die Lage instabil. Es ist nicht so, dass in Kabul jeden Tag eine Bombe explodiert, aber es explodieren sehr, sehr oft Bomben und es kommen sehr viele Menschen um. Mal sind es Autobomben, mal Lkw- und mal menschliche Bomben.
tagesschau.de: Müssen die Menschen, die zurückkehren, um ihr Leben fürchten?
Petersmann: Ich würde die Gefahr für das eigene Leben nicht ausschließen. Es kann passieren, dass du zur falschen Zeit am falschen Ort bist. Dann drückt jemand auf einen Knopf und eine Autobombe explodiert. Mit der Terrorgefahr zu leben, ist sehr real.
Als ich vor Kurzem eine Woche lang in Kabul war, war es ruhig, es hat keinen größeren Anschlag gegeben. Aber ich habe auch diese nagende Unsicherheit, diese Angst gespürt: Man schaut sich oft um, es kommen Beklemmungsgefühle auf, weil man denkt - was wäre jetzt wenn? Diese Angst ist bei ganz vielen Menschen zu spüren. Ich habe mit einigen jungen Studentinnen gesprochen und auf die Frage "Gehen oder Bleiben?" haben die meisten von ihnen geantwortet: "Gehen".
tagesschau.de: Bieten sich für die Asylbewerber nach ihrer Rückkehr überhaupt irgendwelche Perspektiven in dem Land?
Petersmann: In Afghanistan herrscht Krieg - auch, wenn die Bundesregierung das Wort nicht in den Mund nimmt. Es herrscht Krieg seit vier Jahrzehnten. Und trotz der vergangenen 15-jährigen internationalen Afghanistan-Interventionen unter Führung der USA hat sich die Lage nicht verbessert.
Die Wirtschaft ist durch den Abzug von mehr als 100.000 internationalen Soldaten, von Helfern und dem Verlust der damit zusammenhängenden Logistik eingebrochen. Sie war durch die große militärische Intervention wie eine Blase angewachsen. Die Blase ist jetzt geplatzt. Und junge Menschen bewegen sich damit auf einem Arbeitsmarkt, der kaum Perspektiven bietet. Genau das treibt die jungen Afghanen in die Flucht: Diese Mischung aus Unsicherheit, die Angst vor dem Rückzug des Westens und der damit verbundenen Schutzlosigkeit und die Perspektivlosigkeit.
tagesschau.de: Gibt es eigentlich auch vonseiten der afghanischen Regierung Signale, wie sie zu der Wiederaufnahme von Geflüchteten steht?
Petersmann: Die afghanische Regierung steht unter enormen Druck. Denn auch wenn es keiner offen zugibt, so hat die internationale Staatengemeinschaft - speziell Europa - ihre Milliardenhilfen für das Land an die Rücknahme von Flüchtlingen gekoppelt. Das haben mehrere afghanische Quellen bestätigt. Die Formel der Verhandlungen war quasi Geld gegen Flüchtlingsrücknahme.
Zudem ist die Regierung sehr in sich zerstritten. Sie trägt zwar den Namen "Regierung der nationalen Einheit", sie müsste jedoch eher Regierung der nationalen Zwietracht heißen. Und dieses Vakuum, das entsteht, weil die Regierung mehr mit ihren eigenen Streitigkeiten beschäftigt ist, gibt natürlich den Extremisten wie den Taliban oder dem IS Spielraum und Lücken.
tagesschau.de: In Deutschland wird im kommenden Jahr der Bundestag gewählt. Inwiefern spielt der Wahlkampf eventuell eine Rolle?
Petersmann: Der Wahlkampf ist ganz sicher ein Faktor. Es werden zwei Signale von der Regierung ausgesandt. Nach Afghanistan das Signal: "Bleibt da, kommt nicht, wir schicken zurück." Und nach Deutschland rein, dass die Regierung abgelehnte Asylbewerber abschiebt.
Es gibt viel Politik, die um die Flüchtlingsfrage gemacht wird. Auch von afghanischer Seite, um mehr finanzielle Unterstützung zu erhalten. Afghanistan ist nicht in der Lage, die wiederkehrenden Flüchtlinge - auch die Hunderttausende aus den Nachbarländern wie Pakistan - zu versorgen und zu schützen. Es braucht internationale Partner. Ansonsten ist dieser Staat nicht zahlungsfähig.
tagesschau.de: Beim Thema Krieg steht derzeit vor allem Syrien und speziell Aleppo im Fokus. Wird darüber der Krieg in Afghanistan vergessen oder unterschätzt?
Petersmann: Ich würde es eher unterschätzt nennen. Natürlich ist der syrische Krieg nicht mit dem afghanischen vergleichbar. Natürlich fallen in Afghanistan nicht täglich Fassbomben, dort werden nicht täglich Hospitäler bombardiert. Aber ich möchte auch nicht Leid gegen Leid aufwiegen, was in der Diskussion vielleicht zu schnell passiert: Dass der Vergleich gezogen wird und der Krieg in Afghanistan als "kleiner Krieg" erscheint.
Ich bin durch meine Reisen zu der Einschätzung gekommen, dass es ein Krieg ist, der in den vergangenen Jahren deutlich schlimmer geworden ist. Der Menschen zusetzt, sie entwurzelt und das täglich, der sie in die Flucht treibt – täglich. Der Hoffnung nimmt.
Es gibt einen Satz aus den Gesprächen, die ich in Afghanistan geführt habe, der sich mir eingebrannt hat: Wenn wir morgens das Haus verlassen, wissen wir nicht, ob wir abends zurückkommen. Insofern ist jede Verabschiedung beim Verlassen des Hauses wie eine letzte.
Das Interview führte Susann Burwitz, tagesschau.de