US-Mediziner über Pandemie "Es ist nicht vorbei!"
US-Mediziner und Gesundheitsexperten widersprechen Präsident Biden: Dieser hatte die Corona-Pandemie für beendet erklärt. Sie werfen ihm Wahlkampfkalkül vor und verweisen auf Hunderte Tote pro Tag.
Ist die Pandemie überstanden? Nein, sagen zahlreiche Gesundheitsexperten in den USA und kritisieren US-Präsident Joe Biden. "400 Tote pro Tag in den USA? Wollen wir uns damit zufrieden geben?", fragt etwa William Hanage, Epidemiologe an der Harvard University. "Wir müssen anerkennen, dass wir nach wie vor ein großes Problem haben, unabhängig davon, ob Präsident Biden sagt, die Pandemie ist vorbei", sagte er dem Radiosender NPR.
Und Michael Osterholm von der University of Minnesota ergänzt: "Wir müssen so viele Menschen wie möglich in diesem Land mit dem neuen Booster-Stoffen impfen. Wenn man die Pandemie für beendet erklärt, fragen sich doch viele Leute: Wozu brauche ich die Impfung noch?"
Staatliche Gelder hängen von Notstand ab
Die Kritik kommt aus vielen Landesteilen der USA, vor allem von Ärzten, die an der Basis weiter täglich mit Corona-Infektionen zu tun haben. "Ich bin zusammengezuckt, als der Präsident das gesagt hat", sagt David Pate, ein Mediziner in Boise im Bundesstaat Idaho, der lange Direktor an der dortigen St. Luke-Klinik war. "Ich kann nicht sagen, dass ich schockiert bin, schließlich ist Biden Politiker und wir stehen vor wichtigen Kongresswahlen." Er könne schon verstehen, warum Politiker da beruhigten, optimistisch klingen wollten und sagten, es sei vorbei. "Es ist nicht vorbei!"
Pate betonte im Lokalfernsehen weiter, dass nach wie vor der landesweite gesundheitliche Notstand mit Bezug auf die Corona-Pandemie gilt. Dies sei vor allem für die staatlichen Gelder wichtig, mit denen etwa Tests und Impfungen finanziert werden.
Die Biden-Regierung hat im US-Kongress 22 Milliarden US-Dollar an zusätzlichen Finanzmitteln im Kampf gegen Covid beantragt. Noch sind diese Mittel nicht genehmigt, dazu brauchen Bidens Demokraten auch die Zustimmung von Teilen der oppositionellen Republikaner. Dies dürfte es nach der Biden-Äußerung, die Pandemie sei vorbei, deutlich schwieriger werden.
"Durch neue Normalität steuern"
US-Gesundheitsminister Xavier Becerra kam deutlich ins Schwimmen, als er im Fernsehsender CBS nach Bidens Äußerung gefragt wurde: "Der Präsident hat gespiegelt, was viele Amerikanerinnen und Amerikaner denken. Dass wir nicht mehr unbedingt Masken tragen müssen, dass wir unsere Kinder und die Senioren so gut es geht geschützt haben und schützen. Wir haben gelernt, mit Covid umzugehen."
Formal kann eine Pandemie - qua Definition ein grenzüberschreitendes Problem - ohnehin nicht von einem einzelnen Präsidenten oder Regierungschef für beendet erklärt werden, sondern nur von der Weltgesundheitsorganisation WHO. Bisher hat die WHO dies nicht getan.
Der Epidemiologe Robert Wachter von der University of California hat dennoch gewisses Verständnis für die Aussage Bidens: "Wir müssen anerkennen, dass wir in einer neue Phase sind", meint er. Die Bedrohung sei nicht vorbei, aber deutlich kleiner geworden. Es gebe die Mittel haben, "uns alles in allem gut zu schützen".
Wachter meint: "Es ist verständlich, dass wir von diesem Alarmzustand der vergangenen Jahre Abstand nehmen und versuchen, uns durch eine neue Normalität zu steuern."