EU-Gipfel berät über Brexit Die Scherben zusammenkehren
Erst hält Kanzlerin Merkel im Bundestag eine Regierungserklärung in Sachen Brexit, dann muss sie nach Brüssel zum EU-Gipfel. Dort wollen die Staats- und Regierungschefs den britischen Premier Cameron zu raschen Austrittsverhandlungen bewegen.
Die Schockstarre überwinden, den Schaden begrenzen, gemeinsam nach vorne schauen: Der Arbeitsauftrag für diesen Gipfel ist so anspruchsvoll, wie die Lage diffus. Nur vier Tage sind seit Bekanntwerden des britischen Votums vergangen. Vier Tage, die geprägt waren von lähmender Katerstimmung und hektischer Krisendiplomatie.
Einig ist man sich in der Rest-EU bislang nur darin, dass es mit Europa irgendwie weitergehen muss: "Das ist ganz sicherlich nicht der Anfang vom Ende Europas - aber es ist einer der bittersten Tage, den ich in diesem Europa erlebt habe. Ich hätte mir was anderes gewünscht", so Frank-Walter Steinmeier.
Doch für fromme Wünsche ist es zu spät - das weiß auch der Außenminister. Er und die Kanzlerin nutzten die Zeit vor dem Gipfel, um in wechselnder Besetzung mit EU-Kollegen über die nächsten Schritte zu beraten.
Wann beginnen die Gespräche?
Es geht darum, aus dem Referendum zügig die nötigen Schlüsse zu ziehen und sich handlungsfähig zu zeigen. Ein "Weiter so", hört man in Brüssel, dürfe es nicht geben. Vor allem gilt es zu entscheiden, wann die Brexit-Gespräche beginnen sollen. Doch gerade mit dieser Frage tun sich die EU-Spitzen schwer - nicht zuletzt, weil es weder die Sieger noch Wahlverlierer David Cameron mit der Trennung eilig haben:
Die Verhandlungen mit der Europäischen Union müssen unter einem neuen Premierminister beginnen. Und korrekterweise muss der auch sagen, wann Artikel 50 zur Anwendung kommt, und der rechtliche Prozess zum Verlassen der EU startet", so Cameron.
Als Zielmarke nennt Cameron den Tory-Parteitag im Herbst, was die 27 EU-Partner ins Schwitzen bringt. Denn laut besagtem Artikel 50 kann ohne offiziellen Antrag des betroffenen Mitgliedslandes nicht über die Scheidungsmodalitäten verhandelt werden.
Angst vor innenpolitischem Taktieren
In Brüssel ist die Sorge groß, das hauptsächlich innenpolitisch motivierte Zögern Londons könnte die allgemeine Unsicherheit noch verstärken und die Krise unbeherrschbar machen: "Ich finde das skandalös - zum wiederholten Male wird ein ganzer Kontinent für die parteiinternen Überlegungen der konservativen Partei Großbritanniens in Geiselhaft genommen", sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz.
Auch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker erhöhte im Vorfeld den Druck und mahnte Cameron zur Eile: "Die Briten haben zum Ausdruck gebracht, dass sie die EU verlassen wollen. Dann macht es keinen Sinn, dass wir bis Oktober warten."
Zwingen kann die Briten niemand
Italiens Premier Matteo Renzi und Frankreichs Präsident François Hollande warnten ebenfalls vor einer schädlichen Hängepartie. Zwingen, das Verfahren in Gang zu setzen, kann die Briten freilich niemand. Und so wird der Abschiedsbrief aus London - ungeachtet der Empörung - wohl noch eine Weile auf sich warten lassen.
Die Kanzlerin und die meisten anderen Ratsmitglieder haben sich wohl oder übel damit abgefunden. Zwar pocht auch Angela Merkel darauf, die Spielregeln einzuhalten. Konkrete Gespräche über einen Austritt würden erst geführt, wenn Artikel 50 aktiviert sei.
Trotzdem rät sie davon ab, sich über diesen Punkt zu verkämpfen. Im Interesse der künftigen Beziehungen und eines guten Arbeitsklimas plädiert sie im Umgang mit den Briten für Besonnenheit und dazu, "keine schnellen und einfachen Schlüsse aus dem Referendum in Großbritannien zu ziehen, die Europa nur weiter spalten würden".
Cameron wird die Enttäuschung spüren
Mehr als dieses letzte Zugeständnis kann sich der scheidende Premier allerdings nicht erhoffen. Die Staats- und Regierungschefs dürften Cameron ihre Enttäuschung spüren lassen, wenn er in Brüssel zum Rapport erscheint.
Auf Vorschlag von Ratspräsident Donald Tusk werden die 27 am zweiten Gipfeltag erstmals ohne den Kollegen von der Insel beraten. Dann dürfte unter anderem ein deutsch-französisches Reformpapier über mehr Zusammenarbeit in der EU Thema sein. Eine Debatte, die freilich mehr dem demonstrativen Zusammenhalt dient als dem Formulieren handfester Ergebnisse. Um zu wissen, wohin die Reise ohne Großbritannien geht, ist es vier Tage nach dem Brexit-Schock noch zu früh.