Auschwitz-Überlebende in Kiew "Ich möchte Putin überleben"
Anastasia Gulei hat deutsche Vernichtungslager überlebt - und fürchtet nun bei russischen Angriffen um ihr Leben. Die 97-Jährige war nach Russlands Großangriff zeitweise in Deutschland und richtete einen Wunsch an Kanzler Scholz.
Das Jahr geht zu Ende und alleine in der Region Cherson sind viele Zivilisten durch russische Angriffe getötet worden. Die Region im Süden des Landes liegt am Fluss Dnipro und wird täglich vom anderen Flussufer aus beschossen, das die russische Armee besetzt hält.
Vor wenigen Tagen traf eine russische Drohne ein Krankenhaus. Eine Polizeikamera zeichnete das bedrohlich ratternde Geräusch der angreifenden Drohne auf. "Ein Einschlag, alle in den Keller", riefen die Menschen auf den Straßen.
Nach Auschwitz-Birkenau deportiert
"Russlands Krieg gegen uns hat 2014 begonnen - also vor fast zehn Jahren." Daran erinnert Anastasia Gulei immer wieder. Die alte Dame mit den grauen Locken verfolgt die politische Entwicklung und den Kriegsverlauf sehr genau. "Jetzt habe ich noch einen Kummer mehr", sagt sie bedrückt mit Blick auf den Krieg im Nahen Osten.
Sie sitzt im Wohnzimmer ihres Hauses in Kiew unter einem Porträt des ukrainischen Nationaldichters Taras Schwetschenko. "Das habe ich vor langer Zeit selbst gemacht", sagt sie und muss ein bisschen lachen.
Gulei ist 97 Jahre alt. Sie wurde in der Region Poltawa geboren und lebt seit vielen Jahrzehnten in Kiew. Sie hat mehrere deutsche KZ und Vernichtungslager überlebt, darunter Bergen-Belsen und Auschwitz-Birkenau. Dorthin wurde sie deportiert, nachdem sie versucht hatte, aus deutscher Zwangsarbeit zu fliehen.
Heizdecken und Rollstühle
Nach dem russischen Großangriff Ende Februar 2022 ging Gulei mit ihrer Tochter eine Weile nach Deutschland. Nun ist sie zurück in Kiew. Es zog sie in die Heimat zurück, auch wegen ihres Engagements. Sie leitet eine Organisation für ehemalige politische Gefangene, KZ- und Ghettohäftlinge. "Die meisten sind um einiges jünger als ich", erzählt die 97-Jährige. Viele seien Mitte oder Ende 80. Diese Mitglieder ihrer Organisation nennt sie "die Jugendlichen".
"Sie kamen als Kinder aus deutschen Konzentrationslagern und wurden 1945 in Waisenhäuser gebracht, wo sie aufgewachsen sind." Dann gebe es die wesentlich älteren Menschen, die Unterstützung bräuchten. "Wir haben ihnen Heizdecken und Rollstühle mit Toilette gekauft. Viele auf dem Dorf haben keine Toilette im Haus."
Scholz um Waffen gebeten
Gulei kramt ein Foto heraus, das sie im Gespräch mit dem Bundeskanzler Olaf Scholz zeigt. Sie traf ihn auf einem Gewerkschaftskongress in Deutschland und sprach ihn dort auf mehr Waffen an. Nach wie vor legt sie großen Wert auf Beteiligung in der Gesellschaft und engagiert sich seit vielen Jahrzehnten als Zeitzeugin.
Ob Online oder offline erzählt sie von ihren Erfahrungen in deutschen KZ- und Vernichtungslagern und nun auch über den Angriff Russlands auf die Ukraine. Die eintätowierte Nummer auf ihrem Arm aus Auschwitz-Birkenau versteckt sie schon lange nicht mehr.
Anders als früher, sei es ihr inzwischen egal, meint sie. Als Studentin in Kiew habe sie sich den Arm verbunden oder Kleidung mit langen Ärmeln getragen, um mit der eintätowierten Nummer nicht aufzufallen.
Im Gespräch mit Bundeskanzler Scholz bat Anastasia Gulei um mehr Waffen für die Ukraine.
"Alle verfluchen Putin aus tiefstem Herzen"
Die Menschen hätten dumme Sachen gesagt. Zum Beispiel, ob ihr Ehemann sie nummeriert habe, ob das Feldpost sei oder eine Komsomolkarte. Sie dachte damals: "Was für ein glücklicher Dummkopf du doch bist. Du weißt gar nicht, dass das ein Todesurteil war. Wer ein solche Nummer bekam, sollte Auschwitz durch den Schornstein verlassen."
Dennoch ließ sie die Nummer nie entfernen. "Ich habe überlebt", sagt sie ruhig. Gulei geht am Stock und beim Treppensteigen muss sie schnaufen, denn das Herz macht ihr zu schaffen, in jeder Hinsicht. "Wie kann es sein, dass die Welt Wladimir Putin nicht stoppt", fragt sie. "Ich habe nur einen Wunsch: Ich möchte Putin überleben."
Das ist ein sehnlicher Wunsch, den sie mit den anderen Überlebenden ihrer Organisation teilt. "Alle verfluchen Putin aus tiefstem Herzen. Jeder aus unserer Organisation schickt ihm Flüche, aber es hilft nicht", sagt Gulei.
Bei russischen Angriffen schutzlos
Wie viele alte kaum mehr mobile Menschen sucht auch die ukrainische Auschwitz-Überlebende Gulei bei russischen Angriffen keinen Schutzraum auf. Das wäre ihr in ihrem Alter zu weit, zu mühsam und würde viel zu lange dauern, sagt sie.
Und so muss sie bei heftigen russischen Angriffen mit ihrer Angst umgehen. "Das war direkt über dem Haus. Nun, was kann ich schon tun, um mich zu retten? Es knallt und fertig", erzählt Anastasia Gulei.
Bei dem russischen Drohnenangriff auf das regionale Krankenhaus wurde laut der regionalen Militärverwaltung von Cherson ein Arzt verletzt. So geht das Jahr zu Ende und viele fürchten, dass es nach Silvester nicht anders wird. Das gilt auch für Anastasia Gulei in Kiew. Sie verfolgt wie es anderen Menschen ergeht - etwa in der Frontregion Cherson.