Unruhen nach Tod Nahels Worte als Waffe
Viele Städte in Frankreich haben zuletzt Unruhen erlebt. Auch die Stadt Roubaix war Schauplatz - viele Jugendliche dort fühlen sich vergessen. Eine Rapperin versucht, ihnen eine Alternative zu den Krawallen zu bieten.
"Hallo, ich bin Punchlyn, Lyna Ziani, Sängerin und Rapperin in Roubaix", stellt sich die 28-Jährige in einem YouTube-Video vor. Ihr Künstlername erinnert an Punchline, die pointierte Zeile im Rap. Die junge Frau hat blitzende Augen und lange, lockige Haare. Sie hat gerade einen neuen Text geschrieben:
Flash-Ball oder Molotow-Cocktail. Der Schuss geht ab. Wer ist Schuld? Wer geht unter die Gürtellinie?
Lyna bietet Rap als Ausweg an - gibt sogar Kurse im Gefängnis für minderjährige Straftäter. Wie das mit den Unruhen in Roubaix war? Lyna erzählt: "Nahels Tod wurde sehr ernst genommen. Denn hier gab es vor Kurzem einen ähnlichen Fall: Auch Amine Leknoun ist bei einer Autokontrolle durch die Polizei ums Leben gekommen." Nur gebe es davon kein Video, erzählt sie weiter. Die Viertel in Roubaix hätten sich deshalb sofort mobilisiert. "Sie wollten sagen: 'Wir existieren!' Das ist für sie fast ein politisches Engagement."
Lyna spricht von Revolte, nicht von Krawallen. Die Jugendlichen vor Ort hätte sich die Institutionen vorgenommen, die ihnen nach ihrer Meinung das Leben verderben: das Rathaus, die Schule, die Banken, das Polizeikommissariat, analysiert die Künstlerin.
Rapperin will Jugendliche sensibilisieren
Die Rapperin war direkt vor Ort. Ihr Ziel: die Jungendlichen zu sensibilisieren. "Eine Schule anzünden, ändert doch nichts", ist Lyna überzeugt. "Obwohl ich die Wut verstehe."
Die Jugendlichen wollen laut Lyna zeigen, dass sie existieren und mit Einigem nicht einverstanden sind. Die Rapperin versuche, weiter zu schauen. "Die verbrannte Schule - da werden wir mindestens fünf Jahre warten, bis sie renoviert ist. Wir wollten ihnen andere Mittel des Kampfes zeigen", sagt sie. Also: Worte als Waffe.
Eine der Collagen französischer Jugendlicher in Roubaix.
Mit dem Stadtteilkomitee und anderen Künstlern hat Lyna die Jugendlichen zu Collagen angeregt. Auf Schaufenstern, Kiosken, Wänden und Mauern in Roubaix steht nun "Filmt die Polizei!", "90 Prozent der von Polizisten Getöteten sind nicht weiß!" oder "Macron, hau ab!".
Dazu ist Nahels gelbes Auto aufgemalt - vor einer Zielscheibe. Ergebnis der Aktion laut Lyna: 13 Festnahmen. Fünf Jugendliche seien wegen der Collagen in Polizeigewahrsam wegen Anstiftung zum Hass gewesen. Die Rapperin findet: "Die Polizei hat uns der freien Meinungsäußerung beraubt."
Eine Collage zeigt Nahels gelbes Auto.
Eine der Collagen zitiert den französischen Rapper Niska. Er singt: "Schieß! Kugel in den Kopf." Lyna ist der Meinung, ihr Kollege singe nur davon, aber der Polizist habe genau das zu Nahel gesagt und es getan. Zuvor hatten die zwei größten Polizeigewerkschaften die Jugendlichen als "wilde Horden" bezeichnet.
Wir hatten Spaß daran, das Stigma aufzulösen. Sauvage - wild - sind bei uns Individuen, die frei, spontan und authentisch sein wollen, Ketten der konventionellen Gesellschaft zerbrechen und in Harmonie mit der Natur leben."
Nicht alle Jugendlichen machen mit
Die Künstlerin weiß, dass sie nicht alle Jugendlichen erreichen kann. Sie habe mit den Jugendlichen auch über die Vorstadtunruhen 2005 gesprochen - darüber, dass man Fehler nicht wiederholen sollte. Für die Rapperin ist dabei klar: "Einige verstehen, aber man kann nicht alle retten. Bei anderen ist die Wut stärker." Es sei sehr schwierig, Mediation mit wütenden Jugendlichen zu machen - "besonders, wenn die Wut berechtigt ist", sagt die Rapperin.
Rap-Wettbewerbe in der Stadt
Lyna versucht es mit Projekten wie einem Rap-Wettbewerb. Jugendliche, die sie betreut - ihre Jugendlichen, wie sie sagt - sähen ihre Altersgenossen kritisch, obwohl sie die Wut verstehen könnten, so die Rapperin. Lyna hat sie zum lokalen Radio begleitet. Dort sagen sie Sätze wie "Wegen der Randalierer haben doch jetzt Leute ihre Arbeit verloren" und "Manche hatten nichts mit Nahels Tod am Hut".
Die Rapperin hat die Jungs auch auf einer Mauer vor einer Graffitiwand gefilmt. Sie sprechen von Solidarität, Gleichheit und Gerechtigkeit. So verschieden ihre Kulturen sind - so gleich sind ihre schwarzen Turnschuhe.
Mitten in Tumult und Chaos versteckt sich Hoffnung in den Nischen der Gesellschaft. Hinter den Wutschreien steckt der heiße Wunsch nach Veränderung.
Vorstädte als Chance
Es gibt Politiker in Frankreich, die die Vorstädte als Chance und nicht als Problem sehen - so wie Lyna. In Roubaix lebten 70 Ethnien, erzählt die Rapperin. Das bereichere das Verständnis der Welt. "Jeder Nachbar hat andere Traditionen, aber wir leben zusammen. Wenn wir draußen sind, sehen wir die Hautfarben nicht. Bei uns sind Polen, Portugiesen, Schwarze, Nordafrikaner. Das ist ein Reichtum!"
Gerade rechte Politiker sagen den rebellierenden Jugendlichen mit Einwanderungsgeschichte aber nach, sie fühlten sich nicht als Franzosen und müssten sich entscheiden. Lyna selbst entstammt einer algerischen Berberfamilie. Sie lebt wie manch Jugendlicher, der aufbegehrt, in vierter Generation in Frankreich. Sie kontert:
Ich habe aufgehört, mich zu fragen, ob ich Französin bin, als mir klar wurde, ich träume Französisch.
Aber sie habe ein Erbe und könne Vieles auf einmal sein. In der Musik sei sie frei, sagt Lyna. Dort könne sie sein, was sie sein wolle - ohne wählen zu müsse.
Mit ihren Eltern habe es einen Affront gegeben. Sie hätten zu ihr gesagt, sie solle sich integrieren - sie sei schließlich Französin. Lyna findet: Ja, aber nicht nur, wie sie erzählt. "Ich bin auch Algerierin und möchte zu meinen Wurzeln zurück. Denn da wurde schlecht gearbeitet. In der Schule haben sie nur einen Tag über den Algerienkrieg gesprochen!"
Unruhige Zeiten noch nicht vorbei
Sind die unruhigen Zeiten vorbei? "Nein", sagt Rapperin Lyna Ziani alias Punchlyn. Die Unruhen könnten wieder aufflammen, solange es keinen wirklichen konstruktiven Austausch gebe - mit Mitgefühl und Verständnis. Solange sich die Jugendlichen in Frankreich nicht verstanden fühlten und man sie als "Wilde" bezeichne, werde eine Veränderung schwierig.