EU-Kooperation mit Libyen "Gefährlich naiv oder zynisch"
Trotz chaotischer Zustände und massiver Menschenrechtsverletzungen in Libyen, vereinbart die EU eine stärkere Kooperation mit dem Bürgerkriegsland. Menschenrechtsorgaisationen kritisieren das als zynisch. Die Pläne würden die Situation noch verschlimmern.
Erst vor wenigen Tagen schockierte ein Bericht über die unhaltbaren Zustände in libyschen Flüchtlingslagern. Diplomaten der deutschen Botschaft in Niger prangerten "KZ-ähnliche Verhältnisse" und "allerschwerste Menschenrechtsverletzungen" in den Lagern an, die nach Einschätzung vieler Beobachter eher Gefängnissen gleichen als Flüchtlingscamps.
Nichtsdestotrotz will die EU mit der libyschen Regierung zusammenarbeiten, um Flüchtlinge von einer Überfahrt über das Mittelmeer abzuhalten. Die Folge: Zumindest vorerst würden ausreisewillige Flüchtlinge in dem Bürgerkriegsland festgehalten - und womöglich in genau solchen Flüchtlingslagern landen. Zwar sollen sie laut EU-Plänen künftig in "angemessenen Aufnahmeeinrichtungen" in Libyen versorgt werden. Doch internationale Beobachter halten dies für unrealistisch.
"Den Akteuren vor Ort ist nicht zu trauen"
"Dieser Plan ist entweder gefährlich naiv oder gefährlich zynisch", sagt Arjan Hehenkamp, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen in Amsterdam im Gespräch mit tagesschau.de. Er sieht keinen Partner vor Ort, mit dem eine internationale Kooperation möglich wäre. Die Lage im Land sei völlig unübersichtlich und den einzelnen Akteuren sei nicht zu trauen.
Libyen ist derzeit das größte Transitland für Flüchtlinge aus Afrika. Hunderttausende kommen aus Eritrea, Ägypten, dem Niger, Bangladesch oder dem Sudan, um von Libyen aus die zentrale Mittelmeerroute nach Italien zu nehmen. Doch viele landen in Internierungslagern, wo sie festgehalten werden und unter unzumutbaren Bedingungen leben müssen. Nicht nur die deutsche Botschaft im Niger, auch Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen und andere Hilfsorganisationen haben Hunderte Zeugenaussagen dokumentiert, die von Zwangsarbeit, Vergewaltigungen, Menschenhandel, Folter und sogar systematischen Erschießungen in solchen Lagern sprechen.
"Angst vor Gewalt und Missbrauch"
"Selbst in den besseren Einrichtungen herrschen schreckliche Lebensbedingungen", sagt Hehenkamp, der in dieser Woche solche Lager in Libyen besucht hat. Die Menschen lebten dort zusammengepfercht, schliefen auf Matratzen auf dem Boden und hätten nur unregelmäßig Zugang zu Sanitäranlagen, Wasser und Essen. "Außerdem haben sie große Angst vor möglicher Gewalt und Missbrauch." Die Menschen, mit denen er sprach, wüssten zudem nicht, wann sie je wieder aus diesen Lagern herauskämen.
Auch politisch herrschen chaotische Zustände in dem vom Bürgerkrieg geprägten Libyen. Internationale Beobachter sprechen von drei Machtzentren: Die sogenannte libysche Einheitsregierung unter Premierminister Fajes al Sarradsch sitzt in Tripolis und ist Ansprechpartner der EU. Eine Art Gegenregierung bildet die eigentlich abgewählte Regierung der Nationalen Rettung, die ebenfalls noch gewisse Teile der Hauptstadt kontrolliert. Ein weiteres ständig an Einfluss gewinnendes Machtzentrum bildet General Haftar und das formal gewählte Parlament im Osten des Landes. Und auch bewaffnete Milizen haben einzelne Städte oder Einrichtungen unter ihrer Kontrolle.
"EU-Pläne machen die Situation noch schlimmer"
Hat die international anerkannte Einheitsregierung also genügend Einfluss im Land, um die Ziele der EU-Flüchtlingspolitik durchzusetzen? Joachim Paul von der Heinrich-Böll-Stiftung glaubt das nicht. Die Lage im Land sei so schwierig und unübersichtlich, dass er sich kaum vorstellen könne, wie die Regierung ein Flüchtlingslager mit einem Minimum an humanitären Standards garantieren will. "Und selbst wenn sich ein internationaler Akteur fände, der ein solches Lager betreiben würde, frage ich mich, wer hier für ausreichend Sicherheit und die Einhaltung von Menschenrechtsstandards sorgen könnte", sagt er gegenüber tagesschau.de.
Auch Arjan Hehenkamp von Ärzte ohne Grenzen fragt sich, wie die EU ihren Plan umsetzen will, die Flüchtlinge in "angemessenen Aufnahmeeinrichtungen" zu versorgen. Denn derzeit gäbe es keine einzige Organisation der EU oder der UNO, die wirklich vor Ort sei. "Sie arbeiten nicht in Libyen, weil sie Angst haben, in dem Land zu sein. Und genauso geht es den Migranten vor Ort, die die EU jetzt in Libyen festsetzen will." Indem man die Strukturen vor Ort unterstütze, mache man die Situation nur noch schlimmer.
Auch Küstenwache soll Gewalt ausgeübt haben
Auch den Plan, die Küstenwache zu stärken, um Flüchtlingsboote vor der Überfahrt nach Europa zu hindern, hält Hehenkamp für untragbar. "Für die Küstenwache gilt dasselbe wie für alle anderen libyschen Autoritäten: Wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben", sagt er. Hier seien zum Teil Leute am Werk, die an den Flüchtlingen nur Geld verdienen wollten. Manche seien inkompetent, so dass durch Fehler bei Rettungsversuchen der Küstenwache bereits Menschen ums Leben gekommen seien.
Hinzu kommt: Die Küstenwache selbst soll einzelne Menschenrechtsverletzungen begangen haben. In einem Bericht von Amnesty International sprechen Flüchtlinge von Schüssen und Schlägen als sie von der Küstenwache aufgegriffen wurden. Ein Boot mit 120 Menschen an Bord, dessen Motor defekt war, soll die Küstenwache einfach sich selbst überlassen haben. Die Pläne der EU hält Amnesty International deshalb für den "vielleicht hartherzigsten" Beweis, dass die europäischen Verantwortlichen den Flüchtlingen den Rücken zukehren."