Blick in die leere Münzgasse vor der Frauenkirche in Dresden.
FAQ

Maßnahme für Corona-Hotspots Was die 15-Kilometer-Regel bringen soll

Stand: 06.01.2021 15:00 Uhr

Warum ausgerechnet 15 Kilometer? Gilt die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in Corona-Hotspots ab Wohnadresse oder Ortsschild? Wer soll das kontrollieren? Und ist das rechtmäßig? Antworten auf wichtige Fragen.

Von Sandra Stalinski, ARD-aktuell und Kolja Schwartz, ARD-Rechtsredaktion

Was ist mit Einschränkung des Bewegungsradius gemeint?

Wer in einem Landkreis mit besonders vielen Neuinfektionen lebt und keinen "triftigen Grund" hat, soll einen Radius von 15 Kilometern um seinen Wohnort herum nicht verlassen. Laut Kanzlerin Angela Merkel ist damit nicht die Wohnadresse gemeint, sondern zum Beispiel die Stadt. Innerhalb einer Stadt mit hoher Inzidenz solle man sich aber auch über die 15 Kilometer hinaus frei bewegen können. Allerdings müssen die Länder diese 15-Kilometer-Radius-Regel umsetzen.

Was ist der Grund für die Radius-Regel?

Die Bewegungseinschränkungen sollen dazu führen, dass die Menschen zu Hause bleiben. Weniger Kontakte, weniger Infektionen - so die einfache Rechnung. Zumal die Politik und Wissenschaft die Sorge vor den Folgen der neuen offenbar noch ansteckenderen Virus-Mutationen umtreiben. Erklärtes Ziel bleibt, die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz auf unter 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner senken. Der Wert bildet ab, wie viele Menschen sich binnen sieben Tagen mit dem Coronavirus infiziert haben. Ab 50 wären die Gesundheitsämter laut Expertenmeinung wieder in der Lage, sämtliche Neuansteckungen nachzuverfolgen. Derzeit liegt der Wert laut RKI bundesweit bei 127,3. Unter dem 50er-Wert lagen demnach zuletzt nur rund 20 von insgesamt 401 Stadt- und Landkreisen. 68 Kreise wiesen am Dienstag eine Inzidenz von mehr als 200 auf, besonders betroffen sind Sachsen und Thüringen.

Was sind triftige Gründe?

Arztbesuche oder die Fahrt zum Arbeitsplatz. Auch Einkäufe sind ein triftiger Grund, womit aber wohl kaum das Shoppingerlebnis gemeint ist. Das ist wegen des verlängerten Lockdowns aber ohnehin kaum möglich. Bund und Länder zielen mit diesem Beschluss vor allem auf Ausflügler. Konkret heißt es im Beschluss: "Tagestouristische Ausflüge stellen explizit keinen triftigen Grund dar." Damit reagiert die Politik vor allem auf den Besucherandrang in deutschen Skigebieten. Allen Appellen zum Trotz drängelten sich zuletzt Ausflügler auf Pisten, Parkplätzen und Wanderwegen.

Warum 15 Kilometer?

Im Vorfeld wurden unterschiedliche Radien diskutiert - die Spanne reichte von fünf, über 15, bis zu 20 Kilometern. Eine Expertin des Max-Planck-Instituts hatte nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur in einer Vorbesprechung erklärt, dass es zur Senkung der Infektionszahlen "möglicherweise" eine "Stay-at-home"-Anordnung beziehungsweise einen eingeschränkten maximal fünf Kilometer großen Bewegungsradius um den Wohnsitz brauche. Dies sei in den meisten Bundesländern aber auf Widerstand gestoßen.

Vorbild für die jetzt vereinbarte 15-Kilometer-Regel dürfte Sachsen gewesen sein, wo für Kreise ab einer Inzidenz von 200 diese Regel bereits gilt. Auch Thüringens Regierungschef Bodo Ramelow befürwortete diese Einschränkung. Beide Länder unterstützten auch das Vorhaben in den Gesprächen mit dem Bund, heißt es aus Teilnehmerkreisen. Berlin und Nordrhein-Westfalen seien eher skeptisch gewesen.

In Sachsen dürfen Bürgerinnen und Bürger sich allerdings nur innerhalb von 15 Kilometern um ihr "Wohnumfeld" herum bewegen, das heißt de facto ab Haustür. In Ballungsgebieten wie Berlin oder dem Ruhrgebiet wäre eine solche Ausgestaltung kaum denkbar, weil man sich dann mitunter nicht einmal in den Nachbarbezirk begeben könnte. Zumal das in Ballungszentren kaum kontrollierbar wäre, während es in Flächenländern eine Kontrollmöglichkeit schon anhand der Nummernschilder gibt. Deshalb habe man sich am Ende darauf geeinigt, dass der 15 Kilometer-Radius um den "Wohnort" herum gilt. Das heißt de facto also ab Ortsschild.

Ist das rechtmäßig?

Nach dem im November überarbeiteten Infektionsschutzgesetz darf es "Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen" geben. Das ist in Paragraf 28a Absatz 2 InfSchG geregelt. Darunter kann man die Einschränkung des Bewegungsradius einordnen. Allerdings darf es diese Beschränkungen nach dem Gesetz nur dann geben, wenn alle anderen Maßnahmen nicht zu einer wirksamen Eindämmung von Covid-19 geführt haben. Nun soll der Bewegungsradius nur in Hotspots eingeschränkt werden, also dann, wenn trotz aller Maßnahmen der Inzidenzwert bei über 200 liegt. Dies dürfte der Regelung Rechnung tragen.

Das ist ein schwerer Grundrechtseingriff. Auf jeden Fall wird die allgemeine Handlungsfreiheit aus Artikel 2 des Grundgesetzes eingeschränkt, eventuell wird auch in die Freizügigkeit aus Artikel 11 eingegriffen. Wie bei allen anderen staatlichen Maßnahmen gilt: Solche Eingriffe in Grundrechte sind immer dann zulässig, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Jeder staatliche Eingriff in ein Grundrecht muss einem legitimen Zweck dienen. Die Eingriffe müssen geeignet sein, diesen Zweck überhaupt zu erreichen und sie müssen auch erforderlich sein, es darf also kein milderes Mittel zur Erreichung des Ziels geben. Trotz des Paragraf 28a InfSchG würden die Gerichte also genau das überprüfen, wenn sich Einzelne gegen die Einschränkung wehren.

Der Tag nach den Corona-Beschlüssen

Kristin Joachim, ARD Berlin, tagesschau 12:00 Uhr

Der Zweck der Maßnahme ist hier, das Infektionsgeschehen einzuschränken, also der Gesundheitsschutz der Menschen. Gerichte müssten also vor allem prüfen: Ist der Bewegungsradius geeignet, das Ziel zu erreichen, etwa weil größere Menschenansammlungen an Ausflugszielen verhindert werden und ist es auch erforderlich oder könnte man das Ziel auch durch weniger einschneidende Maßnahmen, wie etwa durch eine Schließung der Ausflugsziele erreichen.

Bei der Prüfung spielt das Infektionsgeschehen natürlich immer eine große Rolle. Deshalb könnten der Inzidenzwert von 200 und eine zeitliche Begrenzung der Maßnahmen eine entscheidende Rolle spielen.

Haben sich Gerichte schon zu ähnlichen Beschränkungen geäußert?

Zu Ostern wollte Mecklenburg-Vorpommern verhindern, dass die Menschen Ausflüge an die Ostsee und auf die Ostseeinseln unternahmen und verbot tagestouristische Ausflüge an bestimmte Ziele. Noch vor Ostern kippte das OVG Greifswald die Regel. Allerdings vor allem mit der Begründung, dass sich dann alle Menschen an anderen attraktiven Zielen ballen würden und das Infektionsgeschehen dadurch gerade nicht eingeschränkt würde. Dies könnte also auch eher für die 15-Kilometer-Regel sprechen.

In Sachsen gab es im Frühjahr eine Regel, nach der Sport und Bewegung nur im Umfeld des Wohnbereichs erlaubt waren. Das OVG Bautzen definierte im April 2020, dass damit wohl zehn bis 15 km gemeint seien und kippte die Regel nach vorläufiger Prüfung im Eilverfahren nicht. Sie sei geeignet, eine durch massenhafte Reise- und Ausflugstätigkeit verursachte Ansteckungsgefahr möglichst zu vermeiden und gewährleiste dennoch die Bedürfnisse der Bevölkerung an körperlicher Bewegungsfreiheit.

Machen alle Bundesländer mit?

Nein. Kurz nach den Beschlüssen zeichnete sich bereits ab, dass einige Bundesländer davon wohl abweichen. So will Niedersachsen die Beschränkung der Bewegungsfreiheit in Hotspots nicht ohne Weiteres umsetzen. Nötig sei eine gesonderte Begründung zur Verhältnismäßigkeit, wie sie das Oberverwaltungsgericht bereits bei anderen Einschränkungen angemahnt hat, sagte Ministerpräsident Stephan Weil. "Das ist für uns Teil des Prüfprogramms, ob und wann die Regelung zur Anwendung kommt, am liebsten gar nicht." Derzeit ist das in Niedersachsen auch kein Thema - es gibt im Land aktuell keine Kommune mit einer solch hohen Inzidenz.

Baden-Württemberg hält sich die Entscheidung über die Beschränkung der Bewegungsfreiheit im 15-Kilometer-Radius noch offen. Das sei zunächst nicht geplant, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann. "Wir müssen erstmal zu belastbaren Werten nächste Woche kommen, um darüber zu entscheiden." Zuletzt lag die Zahl nur in zwei Kreisen im Südwesten knapp über 200, in zwei weiteren knapp darunter. Sachsen hingegen will bei der bereits jetzt geltenden strengeren Regelung eines 15-Kilometer-Radius ab "Haustür" bleiben.

Wie soll die 15-Kilometer-Regel kontrolliert werden?

"Was beschlossen wird, wird auch durchgesetzt", betonte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet. Doch so einfach dürfte das kaum sein. Zweifel an der Umsetzbarkeit äußerte etwa der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg. Ein solch eingeschränkter Bewegungsradius sei kaum kontrollierbar, sagte er der "Rheinischen Post". Landkreistagspräsident Reinhard Sager sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, die Bewegungseinschränkungen brächten "große Teile der Bevölkerung in Schwierigkeiten, auf deren Mitmachen wir angewiesen sind". Vor allem in ländlichen Räumen wirkten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit auf einen Radius von 15 Kilometern besonders. FDP-Generalsekretär Volker Wissing sagte: "Wenn Sie in Berlin leben, haben Sie praktisch keine Einschränkungen. Wenn Sie auf dem Land, in der Fläche leben, und das nächste Dorf 15 Kilometer entfernt ist, dann sind Sie quasi aufs Dorfleben reduziert."

Es sei illusorisch zu glauben, dass die Polizei einzelne Städte oder Landkreise auf längere Zeit abriegeln könne, sagte der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt: "Die Polizei kann nur schwerpunktmäßig kontrollieren, nicht flächendeckend." Die Dichte der Corona-Kontrollen könne nicht mehr erhöht werden - zumal die Polizei hier bereits einen Schwerpunkt setze. "Mit der Zunahme von Regelungen nimmt die Kontrolldichte ab, weil die Polizei nicht beliebig vermehrbar ist."

Wie wirksam ist die Maßnahme?

Ob das reicht, um die Infektionszahlen zu senken, ist fraglich. Denn zum Beispiel bleibt die berufliche Mobilität ja weiter möglich. Daher sei fraglich, ob die Radius-Regel durch die vielen Ausnahmen etwa für Berufspendler "Wirkung entfalten wird", sagte etwa Gerd Landsberg vom Städte- und Gemeindebund. In der Tat belassen es Bund und Länder nur bei Appellen an Arbeitgeber, "großzügige" Möglichkeiten für das Homeoffice zu schaffen. Das war im Frühjahr anders, als viele Unternehmen geschlossen hatten. Wer zurückblickt, erinnert sich an leere Straßen, Busse und Bahnen, wo sonst morgens und abends Stau und Gedränge herrschen. Einen kompletten Lockdown auch für Betriebe will die Politik aber vermeiden. "Die Vorstellung, dass wir die gesamte Realwirtschaft nach unten fahren, ist eine Horrorvision", sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer dem MDR.

Wie sieht es in anderen Ländern aus?

In Frankreich zum Beispiel durften die Menschen zeitweise nur mit triftigem Grund vor die Tür und mussten diesen bei Kontrollen mit einem Formular nachweisen. Für Spaziergänge oder Sport galt eine Begrenzung von einer Stunde pro Tag in einem Radius von maximal einem Kilometer zur eigenen Wohnung. In Katalonien im Nordosten Spaniens war vorige Woche angeordnet worden, dass die Menschen ihre Gemeinde zehn Tage lang nur mit triftigem Grund verlassen dürfen, etwa um zur Arbeit zu fahren. Auch in England sollen künftig wieder weitreichende Ausgangsbeschränkungen gelten. Die Bürger dürfen ihre Wohnung demnach nur noch für notwendige Aktivitäten wie Arztbesuche oder die Arbeit verlassen. Wie Premierminister Boris Johnson am Montagabend in einer Fernsehansprache ankündigte, sollen die Maßnahmen vermutlich bis Mitte Februar gelten. Im Parlament wird an diesem Mittwoch mit breiter Zustimmung gerechnet.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 06. Januar 2021 um 12:00 Uhr.