Debatte um Migration und Asyl "Menschenwürde zurück auf die Agenda setzen"
Die Debatte um Migration nach Deutschland ist aufgeheizt. Migrationsforscher warnen vor einer Vereinfachung. Die Menschenwürde müsse zurück auf die Agenda, fordert Expertin Petra Bendel im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Wie nehmen Sie die aktuelle Debatte um Migration nach Deutschland wahr?
Petra Bendel: Die aktuelle Debatte ist sehr aufgeregt und orientiert sich an oft sehr eindimensionalen Handlungsempfehlungen, anstatt faktenorientiert und komplexer zu sein - weil auch Migration einfach ein sehr komplexer Sachverhalt ist.
tagesschau.de: Gibt es Forderungen, die Ihnen sinnvoll erscheinen in dieser Debatte?
Bendel: Alles, was auf unterschiedlichen politischen Ebenen und mit verschiedenen Instrumenten ansetzt, erscheint mir eher geeignet als zu propagieren, dass es den einen Königsweg gäbe, um Migration anzugehen.
tagesschau.de: Das heißt, Sie würden sagen, den Königsweg gibt es nicht?
Bendel: Nein, es gibt keinen Königsweg.
Petra Bendel ist Professorin für Politische Wissenschaft und leitet den Forschungsbereich Migration, Flucht und Integration an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Unter ihrer Leitung findet auch das Projekt "Match'In" statt, ein Kooperationsprojekt der FAU Erlangen-Nürnberg mit der Universität Hildesheim und vier Bundesländern, bei dem Schutzsuchende mithilfe eines Algorithmus in passende Kommunen verteilt werden sollen.
Matching-Software für die Verteilung
tagesschau.de: Sie führen selbst seit 2021 ein Projekt durch, bei dem Geflüchtete mit einem Algorithmus auf Kommunen verteilt werden sollen. Wie genau funktioniert das?
Bendel: Das ist ein Pilotprojekt, das ich gemeinsam mit der Universität Hildesheim und mit vier Bundesländern durchführe. Es nennt sich "Match'In" und hat den Hintergrund, dass bisher die Verteilung von Flüchtlingen von den Bundesländern auf die Kommunen meist über Quoten geschieht, aber die individuellen Voraussetzungen und Bedürfnisse mit den vorhandenen Ressourcen der Kommunen nicht richtig in Übereinstimmung gebracht werden.
Wir wollen das mithilfe eines Algorithmus und auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse tun. Dabei wollen wir die Bedürfnisse und die Voraussetzungen von Schutzsuchenden auf der einen Seite besser berücksichtigen und auf der anderen Seite das Potenzial von Migration für kommunale Entwicklung besser nutzen und damit von Anfang an Integration und Teilhabe verbessern.
tagesschau.de: Welche individuellen Bedürfnisse gibt es denn bei den Schutzsuchenden?
Bendel: Im Groben sind das fünf große Kategorien. Die erste ist das Netzwerk: Habe ich schon Familie irgendwo? Dann geht es um die Gesundheit: Gibt es besondere Bedarfe? Und um den Beruf: Was bringe ich an Kenntnissen und Fähigkeiten mit? Um Fragen der Bildung, die vielleicht zusätzlich Aufschluss darüber geben können, wo ich am besten untergebracht bin.
Wir fragen auch nach besonderen Schutzbedarfen: Gehöre ich zu einer sexuellen Minderheit oder habe ich bestimmte religiöse Voraussetzungen?
Auf der anderen Seite befüllen die freiwillig teilnehmenden Kommunen die Integrationsprofile, in denen sie genau angeben: Wie steht es um unsere Gesundheitsversorgung, welche Bildungsangebote können wir vorhalten, welche Arbeitsmarktstrukturen haben wir? Gibt es Mobilitätsangebote? Und darüber läuft dann unsere Matching-Software, die mittels des Algorithmus einen Verteilungsvorschlag macht.
"Asylrecht kennt keine zahlenmäßige Begrenzung"
tagesschau.de: In der aktuellen Debatte gibt es auch immer wieder Stimmen, die eine Obergrenze fordern - oder eine Integrationsgrenze, wie Markus Söder sie neuerdings nennt. Was halten Sie davon?
Bendel: Das ist ja ein wiederkehrender Bestandteil der flüchtlingspolitischen Diskussion. Der rechtliche Spielraum einer solchen Grenze ist meines Erachtens nicht sehr groß, denn es gibt die Genfer Flüchtlingskonvention und das europäische Flüchtlingsrecht, die das Genfer Recht aufgreift und erweitert. Und wir haben das deutsche Grundrecht auf Asyl. Alle drei kennen keine zahlenmäßige Begrenzung.
Jetzt hat Markus Söder zuletzt gesagt, die Integrationsgrenze sei nur ein Richtwert. Was das dann in der Praxis heißt, ist mir bisher nicht so ganz deutlich geworden.
"Schleuser reisen nicht bis an die Grenze"
tagesschau.de: Eine weitere häufige Forderung ist, dass an den deutschen Grenzen kontrolliert werden soll. An der bayerischen Grenze zu Österreich gibt es das schon länger. Ist es aus Ihrer Sicht sinnvoll, an den innereuropäischen Grenzen zu kontrollieren?
Bendel: Das kommt darauf an, wie man es macht. Wir haben schon die Schleierfahndung, also mobile und verdachtsunabhängige Kontrollen im grenznahen Raum. Jetzt sollen noch flexible zusätzliche Grenzkontrollen an den Grenzen zu Tschechien und Polen temporär eingeführt werden.
Aber da gibt es zum einen rechtliche Fragen. Nur, wenn jemand mit einer Einreisesperre oder Wiedereinreisesperre einreist, kann man ihn oder sie daran hindern, einzureisen. Wenn ein Schutzsuchender einen Asylantrag stellt, dann heißt das, dass er sich nicht mehr "illegal" in Deutschland aufhält und sein Antrag geprüft werden muss.
Und der Europäische Gerichtshof hat am 21. September zum wiederholten Mal klargestellt, dass ein Staat selbst dann nicht direkt an der Binnengrenze zurückweisen kann, wenn ein Schutzsuchender keinen Asylantrag stellt. Denn eingereisten Drittstaatsangehörigen muss dann erst eine Rückkehrentscheidung - also eine Abschiebungsandrohung mit Frist zur freiwilligen Ausreise - zukommen.
Das heißt also: Die Hoffnung, die sich mit diesen Grenzkontrollen verbindet, ist überzogen. Denn es ist nicht so einfach möglich, die Zahl der Einreisen mittels Binnengrenzkontrollen drastisch zu reduzieren - allenfalls an den EU-Außengrenzen.
Außerdem müssen wir nach der Umsetzbarkeit fragen. Die Schleuser reisen in der Regel nicht mit bis an die Grenze. Und die Schleuser stellen sich darauf ein. Wenn bekannt wird, wo Grenzkontrollen stattfinden, verlagert sich auch sehr schnell die unerlaubte Einreise woanders hin.
"Wenig legale Möglichkeiten"
tagesschau.de: Trotzdem argumentiert Innenministerin Nancy Faeser genau damit, dass sie die Schleuseraktivität bekämpfen will. Kann die Politik überhaupt verhindern, dass Schleuser Menschen in die EU und nach Deutschland bringen?
Bendel: Das ist schwierig und ein sehr komplexes Unterfangen. Die Schleuser haben ein Geschäftsmodell, auch, weil es sehr wenig legale Möglichkeiten für die Einreise gibt.
tagesschau.de: Wäre dann ein nötiger Schritt, mehr legale Wege zu schaffen?
Bendel: Für manche Personen wäre die legale Einreise der bessere Weg, zum Beispiel für Personen, die über das Einwanderungsgesetz als Fachkräfte oder als Arbeitskräfte kommen könnten. Für andere ist das eher kein Weg. Das sind Personen, die eines humanitären Schutzes bedürfen, aber keine passenden Ausbildungen für den Arbeitsmarkt mitbringen.
Der Beauftragte der Bundesregierung für Migrationspartnerschaften, Joachim Stamp, soll jetzt dafür sorgen, dass Rückführungen besser durchgesetzt werden, weil die mangelnde Zahl der Rückführungen meist an der mangelnden Kooperation der Herkunftsstaaten liegt, die ihre eigenen Staatsangehörigen nicht zurücknehmen. Und andererseits will die Bundesregierung über das Instrument der Migrationspartnerschaften auch Anreize bieten. Das können zum Beispiel Arbeitsvisa sein.
"Wir brauchen Arbeitskräfte"
tagesschau.de: Die Bundesregierung plant solche Partnerschaften zum Beispiel mit Georgien und Moldau.
Bendel: Ja. Da geht es im Wesentlichen darum, dass die wenigsten Personen aus diesen Ländern tatsächlich hier Asyl bekommen. Auf der anderen Seite würden wir ihnen gerne den Weg über Arbeitsmöglichkeiten öffnen, denn wir brauchen ja Arbeitskräfte.
Mit Georgien und der Republik Moldau ist es Herrn Stamp aber schwergefallen, eine solche Vereinbarung zu schließen, weil beide Länder zu Recht argumentieren, dass sie selbst zu wenig Arbeitskräfte haben. Eine Übertragung der Westbalkanregelung, die ja ein echtes Erfolgsmodell war, auf andere Länder ist also so einfach nicht möglich.
"Gewichtige Einwände"
tagesschau.de: Auch mit Tunesien plant die EU ein Abkommen. Ist es problematisch, mit solchen Staaten Abkommen zu schließen?
Bendel: Migrationspakte stehen dann zurecht in der Kritik, wenn sie die Prävention und Bekämpfung irregulärer Migration vor alle anderen Themen stellen. Wenn sie menschenrechtlich zweifelhafte autoritäre Regime unterstützen.
In Tunesien hat der aktuelle Machthaber mit seiner Rhetorik dazu beigetragen, dass Geflüchtete in die Wüste vertrieben wurden. Auch ist dokumentiert, dass die tunesische Küstenwache Insassen von Migrantenbooten dem Ertrinken aussetzt, weil sie ihnen auf hoher See die Motoren stiehlt.
Schließlich gibt es auch eine Kooperation auch auf EU-Ebene mit der libyschen Küstenwache, wo man wirklich genügend Berichte von Folter und Sklavenhandel hat, von willkürlicher Verhaftung bis hin zu Exekutionen. Das sind gewichtige Einwände.
"Sachliche Debatte und Differenzierung"
tagesschau.de: Mit welchen Staaten könnten Sie sich dann überhaupt vorstellen, Migrationsabkommen zu schließen?
Bendel: Staaten, in denen sehr viele junge Menschen nicht vom Arbeitsmarkt absorbiert werden können, Staaten wie Senegal oder Nigeria. Dort könnten wir zum Beispiel das Instrument von Global Skills Partnerships nutzen, also Ausbildungspartnerschaften. Die haben den Charme, dass es bei solchen Ausbildungen ein Modulsystem gibt. Einerseits bildet man in dem Land selbst aus. Andererseits können diejenigen, die ausreisen wollen, zusätzliche Module belegen und zum Beispiel Deutsch und die Erfordernisse des deutschen Arbeitsmarkts schon im Herkunftsland lernen. Das ist ein gutes Modell, weil es die Bedürfnisse aller Beteiligten respektiert.
tagesschau.de: Zum Abschluss: Was wünschen Sie sich in Bezug auf die Migrationsdebatte in Deutschland?
Bendel: Ich wünsche mir eine sachliche und differenzierte Debatte. Ich wünsche mir, dass die Diskurse die Menschenwürde wieder zurück auf die Agenda setzen. Dass wir klar machen, dass wir auch ein Interesse an Einwanderung haben - und nicht einfach nur überrannt werden.
Das Gespräch führte Belinda Grasnick, tagesschau.de.