Ein Streikender bringt ein Plakat mit der Aufschrift "Streik" an einer Straßenbahn in Köln an.
interview

Forscher zur Streikwelle "Deutschland bei Streiks im hinteren Mittelfeld"

Stand: 06.03.2024 08:54 Uhr

Im ÖPNV, bei Flughäfen und nun auch wieder bei den Bahn: Nehmen Streiks in Deutschland überhand? Soziologe Stefan Schmalz von der Uni Erfurt erklärt im Interview, warum das eher nur ein Gefühl ist - und welche Lösung er sieht.

tagesschau24: Jetzt die GDL und das Bodenpersonal an Flughäfen, davor gab es einen langen Arbeitskampf im öffentlichen Dienst der Kommunen. Täuscht das Gefühl oder entwickelt Deutschland sich gerade zu einem ausgesprochenen Streikland?

Stefan Schmalz: Ich denke, es ist eine gefühlte Wahrheit, dass sich da etwas verändert hat. Zum einen ist es wahr, dass letztes Jahr wirklich deutlich mehr gestreikt wurde. Wir haben noch keine endgültigen Zahlen, aber es gab relativ viele Ausfalltage. Zum Beispiel hat ver.di bis zu 1,2 Millionen Ausfalltage, also Streiktage, hinter sich gebracht.

Es gab aber schon Jahre, in denen deutlich mehr gestreikt wurde - zum Beispiel 2015. Gefühlt ist es aber so, dass es diesmal besonders viel war - ganz einfach, weil wir diese Streiks vor allem in Sektoren hatten, wo die Öffentlichkeit stark von betroffen war - also wie jetzt die Deutsche Bahn und auch der öffentliche Nahverkehr.

Stefan Schmalz, Soziologe, zu den verhärteten Fronten im Tarifkonflikt zwischen Bahn und GDL

tagesschau24, 05.03.2024 18:00 Uhr

tagesschau24: Was ist denn der Grund für diese aktuelle Streikentwicklung?

Schmalz: Ich denke, ein zentraler Grund für die Zunahme an Streiks ist die Inflation, die wir in den Jahren 2022/2023 stark erlebt haben - sechs und sieben Prozent. Diese Preissteigerungen waren in keinem Tarifvertrag, der davor geschlossen wurde, mit einkalkuliert. Davor war die Pandemiezeit, da haben viele Beschäftigte schon Kurzarbeit gehabt oder verzichten müssen. Und die haben dann eher auf eine Lohnerhöhung gehofft. Das war dann nicht der Fall. Das führt dazu, dass es stärkere Auseinandersetzungen gibt, weil es darum geht, ob die Beschäftigten Reallohnverluste hinnehmen müssen.

"Diese Wellenstreiks sind schon eine Besonderheit"

tagesschau24: Wer Bahn fährt, ist gerade zunehmend genervt, jetzt auch vom anstehenden GDL-Streik. Die GDL setzt in Zukunft auf "Wellenstreiks", das heißt, Streiks sollen ohne Ankündigung stattfinden. Geht die GDL damit zu weit?

Schmalz: Es ist natürlich eine Zuspitzung in diesem Tarifkonflikt zu sehen, weil die Sozialpartner bisher zu keiner Einigung gekommen sind. Die Forderungen und das Angebot liegen bisher weit auseinander. Die "Wellenstreiks" werden jetzt von der GDL vor dem Hintergrund eingesetzt, dass sie das Angebot der Deutschen Bahn als unzureichend sieht.

Diese "Wellenstreiks" sind schon eine Besonderheit. Die gab es in der Form, glaube ich, im Bahnsektor in der Bundesrepublik noch nicht. Aber man kann sich das nicht so vorstellen, dass da überhaupt keine Ankündigung erfolgt. Die GDL ist ja eine Organisation mit 40.000 Mitgliedern. Sie muss ihre Mitglieder vorher informieren, dass überhaupt gestreikt wird. Das heißt de facto, man wird als Bahnkunde von diesem Streik nicht 48 Stunden vorher erfahren, sondern vielleicht erst einen Tag. Aber es ist schon eine weitere Zuspitzung.

"Staatliche Impulse für eine Einigung"

tagesschau24: Wie könnte es denn in diesem Konflikt endlich mal zu einer Lösung kommen?

Schmalz: Im Bereich der Bahn ist es sehr, sehr schwierig, weil das Angebot der Deutschen Bahn bisher relativ weit von den Forderungen entfernt ist. Man sollte im Hinterkopf behalten, dass es sich um eine Aktiengesellschaft handelt, bei der der Eigentümer der Staat ist, das Verkehrsministerium also involviert ist. Bisher hat sich das Verkehrsministerium nicht eingeschaltet, obwohl der Staat das Unternehmen bezuschusst und auch im Aufsichtsrat Vertreter hat. Vielleicht wird es ja auch von staatlicher Seite etwas Bewegung geben, dass dort in Richtung einer Einigung Impulse gesetzt werden.

tagesschau24: Der Bund hatte ja schon angekündigt, dass er sich heraushalten möchte. Verstehe ich Sie da richtig, dass Sie das nicht für gut halten?

Schmalz: Ja, Sie verstehen das richtig.

tagesschau24: Wie könnte der Bund denn Einfluss nehmen?

Schmalz: Der Bund könnte Einfluss darauf nehmen, dass mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden, um vielleicht eine Einigung zu finden - weil natürlich die Forderungen auch Kosten verursachen.

tagesschau24: Wir haben darüber gesprochen, dass wir gerade mehr Streiks sehen. Würden Sie sagen, Deutschland ist auf dem Weg, Streik-Europameister zu werden?

Schmalz: Nein, das denke ich nicht. Ich glaube nicht mal, dass Deutschland sich für die Endrunde qualifizieren würde in so einer Europameisterschaft. Deutschland bewegt sich, was die Streiks angeht, im hinteren Mittelfeld, wenn man es mit anderen OECD-Ländern vergleicht. Auch in anderen Ländern, also den USA oder Großbritannien, sieht man gerade so etwas wie eine Streikwelle. Es wäre überzogen zu denken, dass Deutschland da jetzt ganz vorne ist. Das ist einfach objektiv nicht der Fall.

Das Gespräch führte Sandra Rieß für tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Fassung leicht gekürzt und redigiert. Sie finden das Interview in voller Länge als Video auf dieser Seite.

In der Originalversion des Interviews spricht Stefan Schmalz von bis zu 400.000 Ausfalltagen duch ver.di-Streiks im vergangenen Jahr. Er hat sich im Nachhinein selbst korrigiert: Es sind ihm zufolge 1,2 Millionen Ausfalltage. Wir haben das in der schriftlichen Fassung angepasst.

Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 05. März 2024 um 18:00 Uhr.