Bundesfinanzminister Lindner sitzt neben Familienministerin Paus am Kabinettstisch
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Streit ums "Wachstumschancengesetz" Fehlstart nach der Sommerpause

Stand: 16.08.2023 19:30 Uhr

Die Sommerpause ist kaum vorbei - und die Ampel streitet schon wieder. Ein Gesetzentwurf von Finanzminister Lindner wurde kurzfristig von der Tagesordnung des Kabinetts gestrichen. Was steckt dahinter?

Eine Analyse von Corinna Emundts, ARD-aktuell

Während das halbe Land noch Schulferien hat, ist mit der ersten Kabinettssitzung nach der Sommerpause der Traum vom Neustart der Ampelkoalition erst mal geplatzt. Bei einem von zehn Gesetzen, die das Scholz-Kabinett passieren sollten, wurde erneut Porzellan der Ampelfamilie zerschlagen: Beim aus dem Finanzministerium kommenden "Wachstumschancengesetz" konnten weder spät in den Abend gehende Gespräche noch eine Spitzenrunde mit dem Kanzler, dem Finanzminister und der Familienministerin helfen.

Mittags war klar: Familienministerin Lisa Paus legt ihr Veto gegen Lindners Gesetz ein, unterstützt von der grünen Umweltministerin Steffi Lemke.

Es riecht nach Revanche

Das Prekäre daran ist, dass das Veto von grünen Ministerinnen erfolgte, während der ebenfalls grüne Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck den Gesetzentwurf mit Lindner und Kanzleramt inzwischen bereits einvernehmlich ausverhandelt hatte. So riecht es nach einer klassischen Revanche: Wenn Du mir als Ministerin das Geld für die Kindergrundsicherung nicht verlässlich auf die Seite legst, dann gebe ich auch die Milliarden für die Wirtschaft nicht frei.

Fraglich, ob sich die Grünen damit einen Gefallen tun. Deutlich ist hier, dass man sich innerhalb der grünen Spitze über die Strategie nicht einig ist, wie man mit der gerade bei Finanzfragen zuweilen sehr anders tickenden FDP verhandelt. Damit erzeugen sie ein Bild der Basar-Politik einerseits, der inneren Uneinigkeit andererseits.

Der Neustart schien denkbar

Der Ärger aus der wochenlangen FDP-Blockade bei Habecks Gebäudeenergiegesetz sitzt tief bei den Grünen. Doch dort argumentierte die FDP inhaltlich, war mit dem Gesetz nicht zufrieden, was sie wiederum nicht per Veto, aber per Protokollnotiz zum Ausdruck brachte - um dann den Start der parlamentarischen Gesetzesverhandlungen massiv hinauszuzögern. Doch vor der Sommerpause gaben sich alle Beteiligten optimistisch, es Anfang September einvernehmlich verabschieden zu können.

Ein Neustart der Ampel schien denkbar, zumal in vielen Sommerinterviews gerne bekundet wurde, die Kommunikation müsse besser werden, Konflikte um Gesetze eher im Vorraum der Politik ausgetragen werden. Selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier führte mit den Ampel-Spitzen noch im Juli Gespräche und mahnte bessere Kommunikation an. Wenn alle mal nach anderthalb Jahren Krisenpolitik einen Urlaub hinter sich haben, wird es besser gehen, so die Hoffnung. Und dann das.

Man kann annehmen, dass es Paus wirklich um ihre Sache geht - und die Sorge, die von der Koalition geplante Kindergrundsicherung mangels Finanzvolumen im Bundeshaushalt nicht zu einem wirksamen Instrument gegen Kinderarmut werden zu lassen. Doch stellt sich die Frage, ob ihr taktisches Agieren, mit dem sie das politische Berlin schlagartig aus der Sommerruhe holte, der Sache wirklich dient. Wird sie den Finanzminister damit mehr in Spendierlaune bringen?

Fatales Signal

Die Antipoden in dieser Angelegenheit, Lindner und Paus, führen hier eine bestehende Meinungsverschiedenheit fort, die von Bundeskanzler Olaf Scholz bei den Haushaltsberatungen für 2024 im Juli kurzfristig beigelegt worden war: Für das Haushaltsjahr 2024 erzielte er eine Einigung zwischen beiden, für die mittelfristige Finanzplanung ab 2025 wurde nur eine Platzhalter-Zahl eingefügt. Paus bekam als Hausaufgabe von Scholz, bis Ende August ein Konzept zu erarbeiten, wie sich die Kindergrundsicherung berechnen soll. Das hängt stark an der noch offenen Frage, wie hoch das Existenzminimum für das einzelne Kind definiert wird.

Das Veto für das Wirtschaftsförderprogramm Lindners soll aus Paus' Sicht ein Warnschuss Richtung Lindner sein. Das Finanzministerium wiederum spricht von "Erpressung". Für die Ampelkoalition insgesamt ist es gleich in mehrerlei Hinsicht fatal: Zum einen werden die Kommentarspalten voll sein mit dem erneuten Streit der Ampelkoalition - oder gar der sich häufenden Unfähigkeit zur Einigung durch ein geordnetes politisches Verfahren. Dass am selben Tag wichtige Gesetzesvorhaben wie die Solarförderung (aus dem Hause Habeck), das Zukunftsfinanzierungsgesetz (aus dem Hause Lindner) oder auch eine praktikable Vorlage für die kommunale Wärmeplanung geeint und geräuschlos durchs Kabinett gingen, wird im Windschatten des neuen alten Streits sicher weniger wahrgenommen.

Auch dies fatal, denn das Image der Koalition und auch des Kanzlers ist - Umfragen zufolge - bereits ramponiert. Und wer mag einer Regierung trauen, in der sich die Ministerien untereinander der Erpressung bezichtigen? Noch fataler aber scheint der damit entstehende öffentliche Eindruck, die selbsternannte "Fortschrittskoalition" spiele Wirtschaftschancen und -förderung gegen Kinderchancen und -förderung aus. Das dürfte einer von einem Sozialdemokraten geführten Regierung nicht passieren - und widerspricht so ziemlich allem, womit Scholz als Kanzlerkandidat angetreten ist.

Kommt die Einigung in Meseberg?

Vielleicht muss man mal aussprechen, was in Berlin bei der Ampelkoalition keiner sagt: Diese Dreier-Konstellation, ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik, ist mit der Lage - womöglich durch ihre sehr unterschiedlichen Grundhaltungen gerade in der Finanzpolitik - schlicht überfordert. In besseren Zeiten, ohne die finanziellen Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hätte das Bündnis sicher einfacher funktionieren können. Da wären das Aushandeln und Ringen um politische Antworten auf die Klimakrise schon schwierig genug gewesen.

In zwei Wochen steht eine Kabinettsklausur in Meseberg an. Bis dahin ist nun auch das "Wachstumschancengesetz" vertagt - durchaus mit Aussicht auf Einigung, heißt es in Regierungskreisen. Aber in Meseberg sollte es auch um Grundsätzlicheres in puncto Miteinander innerhalb der Regierung gehen. Noch so einen Fehlstart kann sich die Koalition nicht mehr leisten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 16. August 2023 um 14:00 Uhr.