Die CDU und die Leitkultur Warum setzt Merz auf eine 23 Jahre alte Debatte?
Deutschland ist Einwanderungsland: Vor 23 Jahren erkannte das die rot-grüne Regierung an - und Merz sprach erstmals von "Leitkultur". Er spaltete damit auch die CDU. Trotzdem hängt Merz an dem Begriff.
Leitkultur. Erinnert sich noch wer? Es war das Jahr 2000. Der Kanzler hieß damals Gerhard Schröder. Und ein gewisser Friedrich Merz war gerade Unionsfraktionschef geworden und hatte eine - wie er fand - grandiose Idee: "Es geht im Wesentlichen darum, dass die in Deutschland lebenden Ausländer bereit sind, sich einer deutschen Leitkultur anzuschließen."
"Deutsche Leitkultur" - da war es passiert. Ein Begriff betrat die politische Bühne und spaltete Land und Leute. Der Kanzler reagierte auf Schröder-Art: eher ein bisschen spöttisch und von oben herab. "Orientiert Euch doch ein bisschen mehr am Alten Fritz", lästerte Schröder Richtung Merz im Bundestag. "Den tragt Ihr doch sonst auch immer so gern vor Euch her." Der habe damals schon gewusst, was zu einer toleranten Gesellschaft gehöre. Motto: Soll doch jeder nach seiner Façon glücklich werden.
Auch Angela Merkel konnte mit der Merz'schen Idee der Leitkultur wenig anfangen.
Leitkultur-Begriff spaltete CDU
Jetzt also die deutsche Leitkultur im Sinne eines Friedrich Merz. Die spätere Kanzlerin übrigens konnte mit dem Begriff Leitkultur auch nur wenig anfangen. Angela Merkel erinnerte damals den Unionsfraktionschef Merz, den sie dann 2002 samt seiner Leitkultur aus dem Amt kegelte, daran, dass der Begriff Leitkultur nicht im Sauerland eines Friedrich Merz erfunden wurde.
Die Idee einer Leitkultur sei von jemanden gekommen, der sich selbst als deutscher Ausländer bezeichnet habe: von dem Muslimen Bassam Tibi. Der Orientalist habe damals als erster von einer "europäischen Leitkultur" gesprochen, dozierte Merkel damals auf einer Konferenz aller CDU-Kreisvorsitzenden. "Wir Europäer sollten den Mut haben, uns zu unserer eigenen kulturellen Identität bekennen", zitierte die wissenschaftsversierte Merkel den Wissenschaftler Bassam Tibi.
Damals jedenfalls ging es auch in der CDU zur Sache. Der Begriff Leitkultur spaltete auch die Christdemokraten. Peter Müller, der heutige Richter am Bundesverfassungsgericht, war damals saarländischer Ministerpräsident und sagte, der Grundkonsens unserer Gesellschaft müsse beachtet werden. "Dafür brauche ich diesen unglückseligen Begriff der Leitkultur nun wirklich nicht."
Kampfbegriff gegen "Multikulti"
Merz sah das anders, auch wenn ein gewisser Heiner Geißler, CDU-Chefstratege und kluger Kopf, die Idee von Merz, diesen Begriff in die Migrationsdebatte einzuführen, nur überschaubar klug fand. Geißler hatte eine andere These: "Die Verfassung, die muss von jedem der hier lebt akzeptiert werden, egal ob Christ, Muslim oder Jude." Die Verfassung schreibe ja gerade keine Leitkultur vor.
Doch der Begriff nahm Fahrt auf und war bei den Konservativen der Union ein Wahlkampfschlager. Der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer marschierte ganz vorne weg: "Wir als Union treten für die deutsche Leitkultur und gegen Multikulti ein", rief der CSU-Politiker auf einer Wahlkampfbühne. "Multikulti ist tot", sein Schlachtruf.
Grundsätzlicher als das Grundgesetz
Zwei Jahrzehnte später aber ist die Leitkultur wieder da - im Entwurf des Grundsatzprogramms der CDU. Serap Güler, stellvertretende Vorsitzende der Grundsatzkommission, sagt entschuldigend, die Diskussion um den Begriff Leitkultur sei nicht ganz neu. Viele in diesem Land würden sagen, das deutsche Grundgesetz sei unsere Leitkultur, so Güler.
Der Grundsatzkommission der CDU aber reicht das nicht. Sie möchte noch grundsätzlicher als das Grundgesetz werden, wenn es um das Thema Leitkultur geht. Dabei hatte schon damals ein gewisser SPD-Politiker namens Franz Müntefering Merz zugerufen: "Wenn Sie sagen: Leitkultur ist unser Grundgesetz, dann sage ich. Das ist okay. Da habe ich gar nichts dagegen."
Die CDU unter ihrem Chef Merz aber will unter Leitkultur jetzt mehr verstehen. Offiziell heißt es im Entwurf des Grundsatzprogramms: "Mut zur Leitkultur. Wir wollen eine Gesellschaft, die zusammenhält. Alle, die hier leben wollen, müssen unsere Leitkultur ohne Wenn und Aber anerkennen (...) Nur wer sich zu unserer Leitkultur bekennt, kann sich integrieren und deutscher Staatsbürger werden."
Versöhnliche Töne von Güler
Unsere Leitkultur? Das soll freundlich gemeint sein, sagt Serap Güler erklärend: "Wir verstehen die Leitkultur als ein Fördermittel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt."
Die Leitkultur ist also wieder da und die Debatte um den Begriff auch. Genauso wie das Selbstverständnis der CDU auch im neuen Grundsatzprogramm wieder lautet: "Wir sind christlich sozial, liberal und konservativ." Ein Klassiker auch das, den die Altkanzlerin Merkel früher meistens dann zum Besten gab, wenn sie die besonders Konservativen, die Freunde der Leitkultur, im eigenen Laden ärgern wollte: "Mal bin ich liberal. Mal bin ich konservativ. Mal bin ich christlich sozial."