Polizisten begleiten abgelehnte Asylbewerber am 24.11.2015 auf dem Flughafen Leipzig-Halle im sächsischen Schkeuditz.

Diskussionspapier des Innenministeriums Abschiebungen ohne Vorwarnung

Stand: 17.08.2023 12:21 Uhr

Menschen, die lange geduldet in Deutschland leben, könnten bald ohne erneute Ankündigung abgeschoben werden. Innenministerin Faeser und die Ampel senden mit diesem Plan widersprüchliche Signale.

Von Philipp Eckstein, ARD-Hauptstadtstudio und Bianca Schwarz, ARD Berlin

Der Diskussionsentwurf "zur Verbesserung der Rückführung", den das Bundesinnenministerium Anfang August veröffentlicht hat, sorgt weiter für Debatten. Nachdem der Fokus zunächst auf der Verlängerung des Abschiebegewahrsams lag, sorgten zuletzt Überlegungen zum Umgang mit Mitgliedern krimineller Clans für Schlagzeilen. Jetzt ist ein weiteres Detail aus dem 35-seitigen Papier im Fokus, über das die "Süddeutsche Zeitung" zuerst berichtete.

Der Vorschlag aus dem Innenministerium sieht vor, dass in Paragraf 60a Aufenthaltsgesetz die Regelung gestrichen werden soll, nach der Menschen, die bereits länger als ein Jahr in Deutschland geduldet leben, vor einer Abschiebung erneut vorgewarnt werden müssen.

Die Änderung wäre formal klein, es ginge nur um zwei kurze Sätze. Die Auswirkungen könnten aber für viele Menschen weitreichend sein. Ende 2022 lebten in Deutschland etwa 250.000 Menschen mit einer Duldung, 180.000 davon bereits länger als drei Jahre.

Angst und Druck für Betroffene

Clara Bünger, rechts- und fluchtpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, warnt, dass eine Streichung der gesetzlich geregelten Vorwarnung "zu einem massiven Unsicherheitsgefühl und zu einer tatsächlichen Unsicherheit" der Betroffenen führen werde.

Bisher können sich Menschen, die bereits länger als ein Jahr geduldet in Deutschland leben, zumindest in der Regel darauf verlassen, dass eine Abschiebung mindestens einen Monat vorher angekündigt wird. Das gibt ihnen die Möglichkeit, ihre persönlichen Angelegenheiten zu regeln - etwa eine Wohnung aufzulösen und auch freiwillig auszureisen.

Die Ankündigung ermöglicht ihnen zudem, sich erneut rechtlich beraten zu lassen. Dabei würde häufig festgestellt, dass die Möglichkeit bestehe, eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten, sagt die Linken-Politikerin Bünger. Auch Anwälte und die Organisation Pro Asyl betonen im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio die rechtsstaatliche Bedeutung dieser Regelung für die Betroffenen.

Dünne Begründung

Ein naheliegender Grund könnte sein, dass mit der vorgeschlagenen Gesetzesänderung das Innenministerium und die Länder verhindern wollen, dass ausreisepflichtige Ausländerinnen und Ausländer untertauchen oder Widerstand organisieren, etwa in Schulen und Betrieben. Doch von der Vermeidung solcher Aktionen steht in der Begründung des Vorschlags nichts. In dem Diskussionspapier wird lediglich dargelegt, dass es um eine "Entlastung der Ausländerbehörden" gehe und die Ankündigung "entbehrlich" sei, da sie kein eigenständiger Verwaltungsakt sei.

Angesprochen auf das Vorhaben, erklärte Innenministerin Nancy Faeser am Dienstag bei einem Pressetermin in Brandenburg, sie sei "überrascht, wie die Einzelheiten des Diskussionsentwurfes, aus meinem Haus, was das schnellere Abschieben betrifft, insgesamt gewertet werden". Natürlich werde vorab angekündigt. "Wir diskutieren gerade, ob man die Fristen verkürzt."

Unklare Angaben aus dem Ministerium

Zumindest in Bezug auf die erneute Ankündigung einer Abschiebung findet sich in dem Diskussionspapier allerdings kein Hinweis auf eine geplante Fristverkürzung. Vielmehr soll der Abschnitt, so der Vorschlag, ersatzlos gestrichen werden.

Zutreffend ist allerdings, dass Menschen, deren Asylantrag abgelehnt werde, eine Aufforderung zur Ausreise und eine Androhung einer Abschiebung erhalten. Bisher erhalten einen solchen Hinweis auch die Menschen, die im Anschluss geduldet länger als ein Jahr in Deutschland leben.

Die Regelung im Aufenthaltsrecht, die jetzt zur Disposition steht, sieht vor, dass diese Menschen das Recht auf eine erneute Ankündigung haben. Zumal zwischen der ersten Ausreiseaufforderung und einer möglichen Abschiebung Jahre liegen können.

Diese Ankündigungspflicht besteht aber bereits heute nur, wenn eine mindestens einjährige Duldung widerrufen wurde, teilt ein Sprecher des Innenministeriums auf Anfrage mit. "Die Betroffenen werden über den Widerruf der Duldung selbstverständlich informiert."

Widerruf erst bei Abschiebung

Insofern könnte man sagen: Die Betroffenen würden ohnehin noch eine Vorwarnung erhalten. Das Problem, auf das Clara Bünger von der Linken, aber auch Anwälte oder die Organisation Pro Asyl hinweisen: Es gibt Fälle, in denen der Widerruf einer Duldung den Betroffenen erst bei einer Abschiebung mitgeteilt wird. Es vergeht also zwischen dem Widerruf und der Abschiebung gar keine Zeit. Ihre Sorge: Streicht man die Pflicht zur erneuten Ankündigung, könnten solche Abschiebungen zur Regel werden. Auch Menschen, die bereits viele Jahre geduldet in Deutschland leben, müssten das dann jederzeit befürchten.

Auf erneute Anfrage bestätigt auch ein Sprecher des Innenministeriums: "Nach derzeitiger Rechtslage ist ein Widerruf einer Duldung, die bis zu einem Jahr bestanden hat, in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einer Abschiebung möglich." Betroffene könnten aber "vorläufigen Rechtsschutz" in Anspruch nehmen.

Welche Rolle spielt der Wahlkampf?

So ganz überzeugt ist man im Innenministerium aber offenbar auch nicht von diesem Vorschlag. Zumindest ist auffällig, dass ein Sprecher des Ministeriums auf Anfrage gleich mehrfach darauf hinweist, der Vorschlag komme aus den Ländern.

Das Land Berlin hat aktuell den Vorsitz der Innenministerkonferenz. Auf Anfrage kann eine Sprecherin der Berliner Innensenatorin aber nicht sagen, welches Land die Änderungen am Paragraf 60a Aufenthaltsrecht fordert. Nur so viel: Berlin war es nicht.

Das CDU-geführte Innenministerium in Hessen teilt mit, man werde sich "zum Diskussionspapier der SPD-Spitzenkandidatin" nicht äußern. Faeser tritt bei den Landtagswahlen in Hessen für die SPD an.

Vor diesem Hintergrund halten manche Beobachter die "neue Härte" der Innenministerin schlicht für Wahlkampftaktik. Von anderen Beobachtern hört man das Gegenteil: Faeser gehe nicht davon aus, tatsächlich von Berlin nach Wiesbaden zu wechseln, immerhin habe sie sich vom Kanzler zusichern lassen, dass sie Innenministerin bleiben wird, sollte sie nicht hessische Ministerpräsidentin werden. Ihre "neue Härte" sei aber durchaus Taktik - allerdings gegen die AfD, die nur mit Migrationspolitik und dem Dauerthema Abschiebungen punkten kann und die Innenministerin damit stark unter Druck setzt.

Widersprüchliche Signale innerhalb der Ampel

Mit dem Diskussionspapier sendet die Ampel aber widersprüchliche Signale. Denn sollte aus dieser Diskussionsgrundlage tatsächlich ein Gesetz entstehen, stünde es in Sachen Signalwirkung im Gegensatz zu einem anderen Gesetz: Das sogenannte "Chancenaufenthaltsrecht" der Ampel ist Ende des vergangenen Jahres in Kraft getreten und richtet sich insbesondere an Menschen, die seit mindestens fünf Jahren geduldet in Deutschland leben. Sie können unter bestimmten Voraussetzungen eine Art Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten.

Das Signal des "Chancenaufenthaltsrechts" lautet also: Langjährig Geduldete sollen eine Perspektive bekommen, rechtssicher und langfristig in Deutschland bleiben zu dürfen, wenn sie sich vorbildlich integrieren. Das Diskussionspapier aus dem Innenministerium hingegen vermittelt das Signal, dass sie bald schneller und härter abgeschoben werden könnten - ganz gleich, ob sie sich um ihre Integration bemüht haben.

Die Gespräche zwischen Bund und Ländern über das Diskussionspapier sollen Ende August auf Fachebene fortgesetzt werden.

Philipp Eckstein, ARD Berlin, tagesschau, 17.08.2023 13:14 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR Aktuell am 16. August 2023 um 22:35 Uhr.