Braunkohletagebau Welzow-Süd in Brandenburg
analyse

Strukturwandel in Ostdeutschland Das Ende der Ausstiegsdebatte für Kohle

Stand: 04.06.2024 17:04 Uhr

Vor den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg beerdigt das Bundeswirtschaftsministerium den Kohleausstieg 2030. Damit verteilen Bund und Länder die politischen Risiken neu. Der Strukturwandel soll beschleunigt werden.

Eine Analyse von Thomas Vorreyer

Der entscheidende Satz zum Kohleausstieg kommt fast schon beiläufig. "Die Bundesregierung wird keine politischen Bemühungen unternehmen, um diese gesetzliche Frist zu verändern." So steht es in einem Papier, das das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz am Montag in Umlauf gebracht hat.

Die Ampel-Regierung gibt damit einen politisch forcierten, bundesweit vorgezogenen Kohleausstieg im Jahr 2030 auf. Sie beendet einen lähmenden Streit mit den Ländern Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Hier liegen das Lausitzer und das Mitteldeutsche Revier.

Strukturhilfen werden erleichtert

Das Papier ist mit dem Finanzministerium abgestimmt und enthält weitere positive Nachrichten für die betroffenen Regionen. So sollen die 41 Milliarden Euro an Strukturmitteln für den Kohleausstieg flexibilisiert werden. Sie können dann langfristiger als bisher verplant werden. Und sie können auch in Unternehmensansiedlungen und innovative Produktion gesteckt werden, statt wie bisher nur in Infrastrukturmaßnahmen und Forschung.

Das Kalkül dahinter: Der Strukturwandel sowohl in West- als auch Ostdeutschland könnte so beschleunigt werden. Das Geld, von dem erst rund die Hälfte verplant ist, kann unmittelbar statt nur über Umwege in neue Arbeitsplätze investiert werden.

Auch zehn Schienenvorhaben sollen nun in die Planung übergehen. Das bedeutet etwa mehr Tempo für die Bahnstrecken Berlin-Cottbus-Görlitz und Naumburg-Halle in Sachsen-Anhalt. Laut Wirtschaftsministerium müssen die Punkte zum Teil noch vom Bund-Länder-Koordinierungsgremium beschlossen werden.

Damit werden einige Probleme des Kohlekompromisses von 2019 behoben. In den Ländern und Revieren war die Rede von "Konstruktionsfehlern". So sah es auch das grün-geführte Wirtschaftsministerium schon länger.

Ministerium sieht "marktgetriebenen" Ausstieg kommen

Doch eigentlich waren SPD, Grüne und FDP 2021 angetreten, um den Kohleausstieg "idealerweise" auf 2030 vorzuziehen. Mit ihrem Koalitionsvertrag wollten sie mehr für den Klimaschutz tun. Doch gerade die ostdeutschen Kohleländer sahen sich überrumpelt.

In der Folge konnte sich der Bund 2022 nur mit der schwarz-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen und dem Kohlekonzern RWE einigen. Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt und die dortigen Kraftwerks- und Tagebaubetreiber beharrten hingegen auf den bisherigen Ausstiegspfad bis 2038.

Die Diskussion lief noch zwei Jahre weiter - mit zuletzt unterschiedlichen Signalen. So wollte das Wirtschaftsministerium zunächst die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg abwarten.

Gleichzeitig einigten sich die G7-Staaten erst Ende April auf einen vorgezogenen Ausstieg 2035. Zu dem Treffen waren auch die grüne Umweltministerin Steffi Lemke und die grüne Wirtschaftsstaatssekretärin Anja Hajduk angereist.

Die Antwort von Wirtschaftsminister Robert Habeck und Staatssekretär Michael Kellner damals war die gleiche wie in den Vormonaten: Die Frage über das Ausstiegsdatum sei für die EU und Deutschland praktisch obsolet. Der Kohleausstieg komme "marktgetrieben" ohnehin früher. Denn neben RWE steigen auch andere Energiekonzerne 2030 oder früher aus der Kohle aus. Diese Haltung findet sich exakt so auch im jetzigen Papier.

Mehrheiten für vorgezogenen Ausstieg fehlen

Die neue Position erkennt die politischen Verhältnisse an. Eine angedachte Machbarkeitsprüfung hat das Wirtschaftsministerium seit nunmehr zwei Jahren nicht vorgelegt. Auch die "breite Allianz" für einen Ausstieg 2030, die sich Robert Habeck noch Anfang vergangenen Jahres erhofft hatte, hat sich nie gebildet.

In den Revierregionen gibt es keine Mehrheit für einen vorgezogenen Ausstieg. Im Gegenteil. Laut repräsentativen Umfragen in der Lausitz lehnten dort zuletzt zwei Drittel aller Befragten ein Vorziehen ab.

Selbst der beschlossene Ausstieg 2038 spaltet die Bevölkerung vor Ort noch. Die Ministerpräsidenten Dietmar Woidke, Michael Kretschmer und Reiner Haseloff spüren das.

Mit der AfD gibt es eine politische Kraft, die den Kohlekompromiss rückabwickeln will. Sie stellt sich grundsätzlich gegen den Kohleausstieg. Dabei wissen auch viele AfD-Funktionäre, dass sich dieser kaum abwenden lassen wird.

Neue Chancen, neue Risiken

Jetzt werden die Risiken neu verteilt. Die Grünen geben ihr Ziel, die Kohleemissionen zu reduzieren, nur vordergründig auf. Dabei verlassen sie sich darauf, dass es in der EU dauerhaft politische Mehrheiten für eine stärkere Bepreisung von CO2 gibt. Denn genau diese macht die Kohle unwirtschaftlich.

Die Länder und Kommunen haben nach drei Jahren erst einmal Ruhe. Sie können sich auf die Umsetzung des Strukturwandels vor Ort konzentrieren. Zudem hat die Europäische Kommission am Dienstag eine Entschädigungszahlung von 1,2 Milliarden Euro an die LEAG freigegeben. Damit sind binnen zweier Tage mehrere Streitthemen abgeräumt.

Gleichzeitig verschenken die Landesregierungen die Chance auf einen geordneten früheren Ausstieg. Über den entscheiden nun die Kohlekonzerne LEAG und MIBRAG und ihre Eigentümer, die tschechische EPH-Gruppe, allein.

Fokus auf Energiewende vor Ort

Das Ende der Diskussion setzt Energie frei, um die laufende Umstellung auf Solar, Windkraft, Wasserstoff und Energiespeicher weiter voranzutreiben. Dieses Ziel verfolgen Bund, Länder, die allermeisten betroffenen Kommunen und die Kohlekonzerne gemeinsam.

Der Rückhalt in der Bevölkerung ist größer als beim Kohleausstieg. Dennoch schafft der Wandel vor Ort immer wieder auch Konflikte.

Bewegung gibt es auch ohne neues Ausstiegsdatum. Die Lausitz hat sich gerade aufgemacht, das erste "Net Zero Valley" der EU zu werden. Eine klimaneutrale Region also, die für ihre Bemühungen von der EU-Kommissionen Lockerungen im Planungsrecht und Unterstützung bei der Fachkräfteanwerbung erhalten würde. Bund und Länder unterstützen die Bewerbung - wohlwissend, dass Klimaneutralität nur ohne Kohle geht.

Eine andere Herausforderung für den Bund bleibt die Absicherung der Netzstabilität. Vertreter von Industrie und Energiebranche bezweifeln weiterhin, dass die bisherigen Rahmenbedingungen für den Aufbau neuer Gaskraftwerke reichen, um bis 2030 die Netze komplett abzusichern. Gelingt das nicht, müssten im Notfall doch Kohlekraftwerke einspringen.