Rechtsterrorismus NSU-Revision - wie geht es nun weiter?
Mehr als 90 Wochen nach dem Urteil im NSU-Prozess liegt nun die schriftliche Begründung des OLG München vor. Das ist die Basis für das nun beginnende Revisionsverfahren. Die Hintergründe erklärt ARD-Rechtsexperte Frank Bräutigam.
Wozu sind die Angeklagten verurteilt worden?
Nach über fünf Jahren Verhandlung am Oberlandesgericht (OLG) München fand am 11. Juli 2018 die mündliche Urteilsverkündung statt. Die fünf Angeklagten wurden folgendermaßen verurteilt:
- Beate Zschäpe unter anderem wegen Mordes in zehn Fällen, versuchten Mordes in 23 Fällen und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu lebenslanger Freiheitsstrafe. Außerdem hat das Gericht die "besondere Schwere der Schuld" festgestellt.
- Ralf Wohlleben wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zu zehn Jahren Haft.
- Holger G. wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu drei Jahren.
- André E. wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu zwei Jahren und sechs Monaten.
- Carsten S. wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zu einer Jugendstrafe von drei Jahren. Er hat seine Revision zurückgezogen und die Strafe bereits angetreten.
Die anderen Angeklagten haben Revision eingelegt. Ihre Urteile sind also noch nicht rechtskräftig. Im Fall von André E. hat auch die Bundesanwaltschaft Revision eingelegt.
Warum hat es so lange gedauert, bis das schriftliche Urteil vorliegt?
Am Ende eines Strafprozesses gibt es im Gerichtssaal immer eine mündliche Urteilsbegründung, also eine "kurze" Zusammenfassung der Urteilsgründe. In München hat der Vorsitzende Richter Manfred Götzl im Juli 2018 rund vier Stunden gesprochen.
In der Folgezeit verfasst das Gericht dann das schriftliche Urteil. Dafür gibt es eine gesetzliche Frist. Und die hängt von der Dauer des Gerichtsverfahrens ab - der NSU-Prozess lief ja gut fünf Jahre. In diesem Fall hatte das Gericht sage und schreibe 93 Wochen Zeit, das schriftliche Urteil zu verfassen.
Diese Frist läuft am 22. April 2020 ab, wurde also ausgeschöpft. Das dürfte auch mit der Länge des Urteils zusammenhängen, denn es umfasst 3025 Seiten. Allein dieses schriftliche Urteil ist die Basis für das folgende Revisionsverfahren.
Was bedeutet "Revision" im Strafverfahren?
Das Oberlandesgericht ist in Terrorismusverfahren die erste Instanz. Als Rechtsmittel gibt es gegen so ein OLG-Urteil keine "Berufung", in der der gesamte Sachverhalt nochmals geprüft würde (also alle Zeugen nochmals hören etc.).
Das einzige Rechtsmittel ist die "Revision" zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Dort wird das schriftliche Urteil auf Rechtsfehler überprüft. Das bedeutet: Der Sachverhalt - also das, was aus Sicht des Gerichts passiert ist - steht fest. Es werden keine Zeugen gehört, keine weiteren Beweise erhoben. Immer wieder hört man allerdings, in der Revision werde ein Urteil nur auf Formfehler hin überprüft. Das stimmt nicht. "Rechtsfehler" überprüfen bedeutet:
- Es geht zum einen um mögliche Fehler im Verfahrensablauf ("Verfahrensrüge"). Beispiel: Wenn die Verteidigung im Prozess noch einen weiteren Zeugen hören wollte, das Gericht dies aber abgelehnt hat, kann man dies rügen.
- Es geht zum anderen um mögliche Fehler bei der Rechtsanwendung ("Sachrüge"). Beispiel: Hat das Gericht Beate Zschäpe zu Recht als Mittäterin verurteilt? Oder ist ihr Tatbeitrag nur als "Beihilfe" zu werten? Der BGH prüft also, ob das Gericht aus dem festgestellten Sachverhalt falsche rechtliche Schlüsse gezogen hat.
Was ist der nächste Schritt im Verfahren?
Sobald das schriftliche Urteil den Beteiligten zugestellt ist, beginnt die Frist für die Begründung der Revision zu laufen. Sie dauert einen Monat. Das ist wenig in so einem Mammutverfahren, auch wenn die Verteidiger sicher die Zwischenzeit genutzt haben, um ihre Revisionsbegründung vorzubereiten. Darin müssen sie fristgemäß vor allem mögliche Verfahrensfehler begründen. Dass inhaltliche Fehler gemacht wurden, können sie zunächst pauschal rügen und ihre Argumente dafür auch nach Ablauf der Monatsfrist nachreichen.
Wie geht es nach der Revisionsbegründung weiter?
Das weitere Verfahren läuft in mehreren Schritten ab. Schritt 1: Die Bundesanwaltschaft kann innerhalb einer Woche in einer "Gegenerklärung" dazu Stellung nehmen, ob in der Revisionsbegründung aus ihrer Sicht alle Fakten richtig dargestellt sind.
Schritt 2: Die Bundesanwaltschaft verfasst ihre Antragsschrift für den Bundesgerichtshof. Darin setzt sie sich mit allen inhaltlichen Fragen auseinander und schickt sie zusammen mit den Verfahrensakten zum Bundesgerichtshof. Eine Frist für diese Antragsschrift gibt es nicht. Weil es aber um Haftsachen geht, gilt das Beschleunigungsgebot.
Schritt 3: Der BGH (3. Strafsenat) prüft den Fall und fällt seine Revisionsentscheidung, sehr wahrscheinlich nach einer mündlichen Verhandlung im Gerichtssaal.
Was werden die inhaltlichen Knackpunkte sein?
Im NSU-Prozess gab es von Anfang an zahlreiche Streitpunkte, die sich hier nicht alle aufzählen lassen. Ein Knackpunkt wird auf jeden Fall sein, wie die Rolle von Beate Zschäpe rechtlich zu bewerten ist. War ihre Rolle im Hintergrund so zentral, dass das Gericht sie als "Mittäterin" verurteilen durfte?
Um Mittäter zu sein, muss man nicht zwingend selbst geschossen haben, das ist rechtlich anerkannt. Dennoch haben Anklage und Urteil bei der Bewertung von Zschäpes Rolle die Grenzen des rechtlich Möglichen ausgetestet. Der BGH wird hier das letzte Wort haben.
Weiterer Streitpunkt war zum Beispiel der heftige Konflikt von Beate Zschäpe mit ihren Verteidigern Heer, Stahl und Sturm. Hier hatte das Gericht ihren Antrag abgelehnt, die Verteidiger zu "entpflichten". Auch hier wird der BGH prüfen, ob rechtliche Fehler passiert sind.
Und was die reine Höhe der verhängten Strafen angeht: Dabei betont der BGH immer wieder, dass dies vor allem Sache der Richterinnen und Richter vor Ort ist und er nur in Ausnahmefällen korrigierend eingreift.
Wie lange kann das Verfahren dauern?
Eine genaue Prognose ist dazu nicht möglich, das zeigt die Erfahrung mit dem NSU-Verfahren. Sicher ist nur: Es bleibt ein Marathonverfahren. Bis die Verfahrensakten über die verschiedenen Zwischenschritte den BGH erreichen, kann durchaus bis Ende dieses Jahres dauern.
Mit aller gebotenen Vorsicht: Ein Urteil aus Karlsruhe wäre dann im kommenden Jahr denkbar. Dabei ist auch die Logistik ein Unsicherheitsfaktor. Allein die Zustellungen des Urteils und der umfangreichen Verfahrensakten wird eine Herausforderung. Ganz zu schweigen davon, in welchem Karlsruher Gerichtssaal am Ende Platz für alle Verfahrensbeteiligten plus Publikum sein wird.