Triage-Gesetz im Bundestag Ein ethisches Dilemma
Heute stimmt der Bundestag über das sogenannte Triage-Gesetz ab. Es soll eine Benachteiligung behinderter und alter Menschen im Krankenhaus verhindern. Die Bedenken dagegen sind jedoch groß.
Es ist ein Albtraum-Szenario: Noch ein einziges freies Intensivbett und drei Patienten werden gleichzeitig eingeliefert. Alle sind in einer Verfassung, dass sie grundsätzlich die Chance haben, zu überleben, sofern sie behandelt werden. Wem soll die Klinik das letzte freie Bett geben? Fachleute sprechen von einer Triage-Entscheidung. Der Begriff kommt aus dem Französischen und bedeutet Auswahl, Sortierung.
Ein Gesetz soll nun Entscheidungskriterien für eine solche Extremsituation fehlender intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten festgelegen. So soll "nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit" der Betroffenen entschieden werden. Ob der Patient hingegen in zehn Jahren noch leben wird, darf keine Rolle spielen.
Bisher nur Empfehlungen
Bislang gab es für den Triage-Fall nur Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften. Das Bundesverfassungsgericht hatte der Politik im vergangenen Dezember aufgetragen, Vorkehrungen zu treffen, dass niemand aufgrund einer Behinderung im Fall pandemiebedingter Behandlungsengpässe benachteiligt wird. Eine Gruppe von Menschen mit Behinderung hatte zuvor Verfassungsbeschwerde eingereicht.
Nancy Poser war damals eine der Beschwerdeführerinnen. Die Juristin aus Trier, die wegen einer angeborenen Muskelerkrankung im Rollstuhl sitzt, kritisiert den Gesetzentwurf scharf: "Er schützt Menschen mit Behinderung überhaupt nicht." Es sei genau das Kriterium gewählt worden, das Menschen mit Behinderung am meisten diskriminiere.
Zwar steht in dem Gesetzentwurf ausdrücklich geschrieben, dass niemand bei der Zuteilung von intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten benachteiligt werden dürfe. Wie alt der Patient ist, darf genauso wenig einfließen in die Entscheidung wie das Geschlecht oder eine Behinderung. Aber im Gesetz steht auch: Komorbiditäten, also Begleiterkrankungen, dürfen dann berücksichtigt werden, wenn sie die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern.
Gefahr der Diskriminierung
Dieser Punkt bereitet Poser Sorgen. Denn sie sieht dadurch eben doch die Gefahr einer Diskriminierung von Menschen, die wie sie selbst eine Behinderung haben. Viele Betroffene hätten aufgrund ihrer Behinderung Begleiterkrankungen. "Und genau die dürfen Ärzte berücksichtigen, um eine Entscheidung zu treffen, wer - wie sie meinen - besser überleben kann. Das ist genau das, was wir befürchtet haben." Wenn jemand sein Leben im Rollstuhl verbracht habe, dann sei der mit 50, 60 Jahren sicherlich nicht mehr vom Herzen her so fit wie jemand, der Sportler gewesen sei.
Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) sieht das Gesetz deshalb kritisch. Das Kriterium der "Überlebenswahrscheinlichkeit" sei ein Einfallstor dafür, dass in der Praxis unbewusste Vorurteile und Stereotype zu Lasten alter Menschen und von Menschen mit Behinderung ungewollt in die Prognoseentscheidung einflößen, sagt Leander Palleit vom DIMR.
Ehtikrat: Alles tun, um Triage zu verhindern
Die Bundesärztekammer hält diese Sorgen für unberechtigt. "Für uns gilt: Kein Menschenleben ist mehr wert als ein anderes", betont Vizepräsident Günther Matheis. Deshalb verböten sich im Triage-Fall auch Benachteiligungen beispielsweise aufgrund von Alter, Geschlecht oder Behinderung. "Es gelten lediglich medizinische Kategorien, die zu einer Behandlung führen und am Ende über eine Erfolgsaussicht entscheiden." Es gebe auch viele Menschen mit Nebenerkrankungen auf der Intensivstation, die nicht behindert seien.
Für den Deutschen Ethikrat steht fest: Es müsse alles getan werden, um gar nicht erst in solche eine Extremsituation zu kommen. Wenn man erstmal in so einer Knappheit von Behandlungsressourcen sei, könne man nie eine gerechte Situation herbeiführen, sagt Alena Buyx, die Vorsitzende des Rats. "Das ist immer fürchterlich, das sind immer tragische Entscheidungen. Und es gibt eben ein Potential, dass bestimmte Gruppen benachteiligt werden."
Zufallsprinzip statt Prognose
Gerechter als eine Entscheidung aufgrund ärztlicher Prognosen wäre aus Sicht von Nancy Poser das Zufallsprinzip, also eine Losentscheidung zum Beispiel mittels eines Computerprogramms. Auch Leander Palleit vom Deutschen Institut für Menschenrechte hielte das aus ethischer Sicht für die beste Lösung. Dann würde wirklich ohne Ansehen der Person entschieden und jedes Leben wäre gleich viel wert - so wie es das Grundgesetz und die Menschenrechte verlangten.
Die Bundesärztekammer lehnt eine Triage-Entscheidung durch Zufallsverfahren ab. "Wir entscheiden nach ärztlichem Dafürhalten und nach bestem Wissen und Gewissen - und nicht nach Los", sagt Vizepräsident Matheis. Der Deutsche Ethikrat hat keine offizielle Position zu dieser Forderung. "Ich persönlich in meiner Rolle als Medizinethikerin sehe eine Entscheidung per Zufallsverfahren als sehr problematisch an", sagt Alena Buyx. Die Vorsitzende des Gremiums fügt aber umgehend an, dass es innerhalb des Ethikrats auch Stimmen gebe, die das Zufallsprinzip favorisierten.
"Hier wird die Büchse der Pandora geöffnet"
Nancy Poser ist es wichtig zu betonen, dass durch das Gesetz nicht nur Menschen mit Behinderung diskriminiert werden könnten. Im Triage-Fall drohten alle Schwachen, gerade auch Alte und Vorerkrankte, benachteiligt zu werden. "Hier wird die Büchse der Pandora geöffnet. Es werden jetzt Überlebenswahrscheinlichkeiten verglichen und sich dann für den Stärkeren entschieden." Das Deutsche Institut für Menschenrechte kritisiert, damit würde "‘Survival of the Fittest‘ zur gesetzlichen Vorgabe".
Die Bundesärztekammer hält das Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit trotz aller Kritik für richtig. "Die Gesamtprognose zu überleben ist für Patienten mit höheren Erfolgsaussichten deutlich besser", erklärt Günther Matheis. "Als Ärzteschaft müssen wir darauf abzielen, möglichst viele Menschen zu retten." Und dafür brauche die Ärzteschaft Rechtssicherheit.
Sinnvoll fände es die Bundesärztekammer, wenn auch eine bereits begonnene Behandlung in aussichtsloser Situation zugunsten eines anderen Patienten mit höherer Überlebenswahrscheinlichkeit beendet werden könnte. Diese sogenannte Ex-post-Triage war in einem ersten Entwurf zum Gesetz vorgesehen, wurde aber wegen rechtlicher Bedenken und heftiger Kritik wieder gestrichen.