Cum-Ex-Staatsanwältin Brorhilker "Neue Form der Organisierten Kriminalität"
Staatsanwältin Brorhilker ermittelt gegen 1000 Beschuldigte im größten Steuerskandal der deutschen Geschichte. Erstmals äußert sie sich öffentlich und spricht gegenüber NDR und WDR von einer gefährlichen Unterwanderung des Systems.
Jahrelang wirkte sie im Hintergrund, jetzt spricht Staatsanwältin Anne Brorhilker zum ersten Mal öffentlich über ihre Fahndungsarbeit im wohl größten deutschen Steuerskandal: Cum-Ex. Was mit einem Einzelfall begann, ist aus Sicht der 47-Jährigen inzwischen ein Fall der Organisierten Kriminalität: Bandenkriminalität mit zum Teil Mafia-ähnlichen Netzwerken. Brorhilker wählt einen drastischen Vergleich: "Die waren schon gut vernetzt. Das ist ein Merkmal von Organisierter Kriminalität - die Einflussnahme auf Medien, auf Wirtschaft und auf Justiz, entweder über Einschüchterung oder über faktische Einflussnahme." Das sei nicht unbedingt immer sichtbar. "Und das macht es eben auch so gefährlich - die Unterwanderung."
Tatsächlich fanden die Ermittler auf sichergestellten Mail-Accounts zahlreiche Hinweise darauf, dass Cum-Ex-Akteure versucht hatten, Einfluss auf die Steuergesetzgebung zu nehmen. Gesetze, mit denen die Beschuldigten ihren Geschäften jahrelang einen legalen Anstrich geben konnten. Tatsächlich schaffte es der Gesetzgeber erst 2012, zehn Jahre nach ersten offiziellen Hinweisen, Cum-Ex zu stoppen.
So zurückhaltend Brorhilker in der Öffentlichkeit auftritt, so forsch beschreiben Mitstreiter wie Widersacher die Oberstaatsanwältin, wenn sie hinter ihrem Schreibtisch sitzt. 2002 wurde sie Staatsanwältin in Köln. Seit mehr als acht Jahren ist sie im Cum-Ex-Skandal nun schon Bankern, Beratern und Aktienhändlern auf der Spur. Sie sollen sich mithilfe abgesprochener Aktiengeschäfte Steuern haben erstatten lassen, die zuvor niemand gezahlt hatte, so Brorhilkers Verdacht. Ein Griff in die Staatskasse zu Lasten der Allgemeinheit.
Mehr als zehn Milliarden Euro sollen die Cum-Ex-Akteure bei ihrem Diebeszug erbeutet haben. Milliarden, die der Staat in den letzten Jahren für die Sanierung von Schulen, für Kindertagesstätten, Gesundheitsfürsorge oder bezahlbaren Wohnraum hätte einsetzen können. Brorhilker ermittelt inzwischen gegen mehr als 1000 Beschuldigte. Cum-Ex ist der Skandal, der alle bislang gekannten Dimensionen im Wirtschaftsstrafrecht sprengt.
Wer ist diese Ermittlerin?
In der Story im Ersten "Der Milliardenraub - Eine Staatsanwältin jagt die Steuer-Mafia" spricht die Strafverfolgerin zum ersten Mal öffentlich über ihre jahrelange Fahndungsarbeit. Basierend auf zahlreichen Interviews mit Beteiligten und Recherchen von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" gibt die TV-Dokumentation exklusive Einblicke in die Aufarbeitung des Skandals.
Als Brorhilker im Herbst 2013 den ersten Cum-Ex-Fall auf den Schreibtisch bekam, ahnte sie nicht, dass sie bald gegen die halbe Bankenwelt, auch gegen Manager der beiden größten Banken der Republik - der Deutschen Bank und der Commerzbank - ermitteln würde. Dazu gegen Verantwortliche der einstigen Landesbanken WestLB und HSH Nordbank, ebenso wie gegen Mitarbeiter internationaler Investmentbanken. Sie sah nicht kommen, dass selbst renommierte Anwaltskanzleien wie "Freshfields" und namhafte Steueranwälte auf ihrem Radar erscheinen würden.
Ermittlungen trotz Belästigungen
Viele Beschuldigte hatten stets betont, dass sie Gesetzeslücken nur legal genutzt hätten. Auf Nachfrage wollten sich die hier genannten Banken nicht zu den laufenden Ermittlungen äußern, unterstrichen aber unisono, mit den Behörden zu kooperieren.
Brorhilker hatte nicht bei allen Banken immer das Gefühl von Kooperation. Bei Razzien sei es in einem Fall sogar regelrecht eskaliert.
Wir saßen in einem Raum mit einer Glasfassade und draußen standen aufs Äußerste empörte Vorstandsmitglieder und Mitarbeiter und haben sich furchtbar aufgeregt. Weil die Stimmung hochschoss, kam es dann zu Szenen, dass mich jemand am Arm festgehalten oder versucht hat, mich in eine Ecke zu drängen. Das sind Situationen, die man eigentlich nicht erleben möchte.
Unbeirrt ermittelten Brorhilker und ihr Team aus Landeskriminalbeamten, Steuerfahndern und Computerexperten weiter. Weltweite Razzien und abgehörte Telefonate legten immer neue Teile des komplexen Puzzles offen. Schließlich wurde der Fahndungsdruck einigen Beschuldigten offenbar zu groß: Sie stellten sich als Kronzeugen zur Verfügung - es war ein entscheidender Durchbruch. In monatelangen Vernehmungen gestanden sie, bewusst und abgesprochen in die Staatskasse gegriffen zu haben.
System mit Seitenwechslern aushöhlen?
Noch während Brorhilker Cum-Ex-Fälle ermittelte, stieß sie auf weitere Modelle, die auch nach 2012 praktiziert wurden - also in eben jenem Jahr, in dem das Bundesfinanzministerium die Geschäfte endgültig gestoppt haben will. In der Finanzbranche säßen top ausgebildete Leute, deren Job nichts anderes sei, als sich solche Steuermodelle auszudenken - auf der ganzen Welt, sagt die Staatsanwältin. "Deswegen wäre es naiv zu denken, dass es nach 2012, als sich bei uns das System geändert hat, die würden das nicht weitermachen. Wenn ein Modell abgestellt ist, dann überlegt man sich was anderes."
Mit den der Justiz heute zur Verfügung stehenden Mitteln ist es aus Sicht der Staatsanwältin nicht möglich, die Steuerbetrugs-Industrie endgültig zu stoppen. Sie schlägt Methoden vor, die der Staat im Bereich der Cyberkriminalität einsetzt - das Engagieren von Seitenwechslern. Wie "weiße Hacker", so Brorhilkers Idee, könnte der Staat Player aus der Finanzbranche einstellen, um auf Stand zu bleiben. "Wir müssten Insider haben, die uns da dauerhaft irgendwie auf Stand halten. Wie soll man denn da auch immer auf diese Ideen kommen? Wir haben als Staat doch gar nicht die Kapazitäten, um uns solche kriminellen Sachen ununterbrochen auszudenken."
Die Ermittlungsarbeit der Staatsanwältin führte inzwischen schon zu ersten Urteilen. In der vergangenen Woche wurde vor dem Landgericht Bonn der erste deutsche Banker zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Brorhilker hatte eine Strafe von zehn Jahren gefordert, Richter Roland Zickler verurteilte den 77-jährigen Ex-Banker schließlich zu fünfeinhalb Jahren Haft. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.