Zehn Jahre nach Beschluss Der Mindestlohn ist immer noch ein Reizthema
Zehn Jahre nachdem seine Einführung beschlossen wurde, ist der Mindestlohn immer noch umstritten. Seinen Befürwortern ist er zu niedrig, seine Gegner halten ihn schlicht für "illegal". Argumente werden aber mittlerweile leiser ausgetauscht.
Fast auf der ganzen Welt gibt es staatlich festgeschriebene Mindestlöhne; interessanterweise ausgerechnet in einigen europäischen Ländern nicht - so in Italien, Österreich, Dänemark, in Schweden oder Norwegen. Dort allerdings herrscht - anders als in Deutschland - eine hohe Tarifbindung.
Schaut man genauer hin, so hat der Mindestlohn in vielen Ländern die Bezeichnung kaum verdient: In Russland sprechen wir von einem Dollar die Stunde, in China, Brasilien oder Indien von zwei, aber auch in Ungarn und Portugal von nur vier beziehungsweise fünf Dollar in der Stunde.
Deutschland führte den Mindestlohn 2015 ein. Zunächst betrug er 8,50 Euro, stieg dann aber ständig und deutlich an: bis heute auf 12,41 Euro. Damit liegt Deutschland im europäischen Vergleich auf Platz vier.
Es wurden eher die positiven Erwartungen erfüllt
Von Anfang an sahen ihn viele kritisch, doch hat sich die Aufgeregtheit um das Thema in den vergangenen zehn Jahren doch ziemlich gelegt. Zwar sind es immer noch die gleichen Gegenargumente, doch haben Studien viele davon mittlerweile relativiert.
So wurde nicht beobachtet, dass viele Arbeitsplätze wegen unter Mindestlohnzwang zustande gekommener Firmenpleiten verloren gegangen sind. Auch sind die Verbraucherpreise offensichtlich nicht aufgrund des Mindestlohns so stark angestiegen wie befürchtet. Wohl aber stieg der bürokratische Aufwand für die Kontrolle der Betriebe, um den Mindestlohn tatsächlich flächendeckend durchzusetzen.
Eher trafen einige Voraussagen der Mindestlohnbefürworter ein, wie eine Analyse der Hans-Böckler-Stiftung nahelegt: So bewahrte der Mindestlohn nicht nur so manchen Geringverdiener vor der Armut trotz Vollzeitjob und schaffte sicher bei vielen eine größere Lohnzufriedenheit, auch beobachteten die Forscher des Kölner Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) eine steigende Konsumnachfrage aufgrund der verbesserten Einkommenssituation.
Einen Zusammenhang zwischen der Einführung des Mindestlohnes und einem Rückgang der Schwarzarbeit konnten Wissenschaftler des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik nicht eindeutig nachweisen.
Es steigt nicht nur der Mindestlohn
"Am Mindestlohn ist kein Friseursalon gescheitert", sagt Bernd Kiefer, Landesinnungsmeister und im Vorstand des Landesverbandes Rheinland-Pfalz der Friseure. "Wenn die Geschäfte eine gesunde Geschäftspolitik gemacht haben, auch mit einer Preisentwicklung, die sich entsprechend angepasst hat - die Kunden haben das ja auch mitbekommen - dann war das relativ einfach."
Doch der Friseur mit eigenem Salon hat auch gespürt, dass die Einführung eines Mindestlohnes nicht nur bei seinen ungelernten Kräften die Löhne durcheinandergewirbelt hat. "Wir reden immer von einer Kraft, die nichts gelernt hat. Das heißt, alle gelernten Kräfte müssen dann auch entsprechend mehr Lohn verdienen: Und das ist die Crux, denn dann steigen exorbitant nachher alle Löhne an." Um die gelernten Kräfte in gleichem Maße besser zu bezahlen wie vorher, mussten danach auch deren Löhne entsprechend angehoben werden.
Kein freies Spiel der Kräfte mehr
Hier setzt auch Steffen Kampeter an. Der Geschäftsführer der Deutschen Arbeitgeberverbände hält den Mindestlohn für eine Aushöhlung der Tarifautonomie: "Die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 und die spätere Anhebung des Mindestlohns durch das Bundesarbeitsministerium hat der staatlich gesteuerten Lohnpolitik Tür und Tor geöffnet". Ausschließlich die Mindestlohnkommission habe über die Höhe zu entscheiden, nicht die Politik, so Kampeter.
Für ihn zähle auch das Argument der Armutsbekämpfung nicht: "Der Mindestlohn - egal wie hoch dieser auch angesetzt wird - ist kein geeignetes Mittel, um das Armutsrisiko zu senken." Auf Nachfrage erläutert der BDA-Funktionär: Die nachgelagerte Erhöhung auch der Löhne der Höherqualifizierten, die notwendig wird, damit die signifikante Besserstellung Gelernter gegenüber ungelernten Kräften erhalten bleibe, könne Betriebe in Schwierigkeiten bringen. Müssten diese Arbeitskräfte entlassen, werde hier neue Armut geschaffen, die letztlich mit der Einführung des Mindestlohns zusammenhinge.
Kampeter ergänzt: "Wer Armut bekämpfen will, muss Beschäftigungschancen schaffen. Dies gelingt am besten über Bildung und nachhaltige Ausbildung sowie über Lohnstrukturen, die auch einfache Tätigkeiten nicht aus dem Arbeitsmarkt verdrängen."
VdK fordert Erhöhung auf 14 Euro
Eine Erfolgsgeschichte bedeutet die Einführung des Mindestlohns hingegen für VdK-Präsidentin Verena Bentele. Sie habe für Millionen Menschen im Niedriglohnsektor eine untere Haltelinie für einen existenzsichernden Lohn eingezogen.
Der Sozialverband fordert wegen der Inflation sogar eine sofortige Erhöhung auf über 14 Euro. Da gerade Menschen in den unteren Einkommensgruppen dadurch mehr Geld zur Verfügung hätten, würden die Kaufkraft und die Wirtschaftskraft gesteigert, denn diese Lohngruppen gäben ihr Geld meist komplett auf dem heimischen Markt aus.
Bentele sieht aber auch eine Schwachstelle im Mindestlohnkonzept: "Das Grundgesetz gibt vor, dass der Staat das Existenzminimum nicht besteuern darf. Dieser Grundfreibetrag im Steuerrecht müsste sehr viel höher sein, als er momentan ist. Das würde allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und besonders denjenigen mit kleinen Löhnen zugutekommen."
Gastronomie bleibt ein Sonderfall
Einen anderen Weg geht die Gastronomie, zum Beispiel in Rheinland-Pfalz. Der Mindestlohn spiele hier kaum eine Rolle, erklärt Gereon Haumann, Präsident des Branchenverbandes DEHOGA. "Ich glaube, der Mindestlohn ist das falsche Instrument. Das richtige Instrument ist es, die Allgemeinverbindlichkeit von verhandelten Tariflöhnen durch den Staat erklären zu lassen, so wie wir es im Gastgewerbe in Rheinland-Pfalz seit Ende 2022 tun. Bei uns ist klar geregelt, dass jeder gastgewerbliche Betrieb unsere Einstiegslohngruppe zahlen muss. Und die liegt fünf Prozent über den Mindestlohn".
Auch für Haumann ist der Mindestlohn ein unzulässiger Eingriff des Staates in die Tarifautonomie. Er sieht in seiner Branche vor allem familiengeführte Betriebe im ländlichen Raum in Gefahr, die nur ein ganz geringes Budget für Personalkosten haben. "Ich glaube, dass viele Betriebe auf der Strecke geblieben sind, die sich gewisse Lohnhöhen für niedrige Einkommensverdiener nicht leisten können, beziehungsweise dass viele Arbeiten auch weggefallen sind im Niedriglohnsektor. Und dass das insgesamt schon viele Arbeitsplätze und auch Betriebe gekostet hat."
Ein Fazit nach zehn Jahren Mindestlohn zu ziehen ist also keine leichte Aufgabe. Befürworter und Kritiker fühlen sich beide bestätigt, für neutrale Beobachter halten sich Vor- und Nachteile die Waage. Einigkeit besteht darüber, dass Armut trotz Vollzeitjob verhindert werden muss. Ob das ein Mindestlohn schafft oder eine strenge Tarifbindung an gerechte Löhne, dürfte den Betroffenen herzlich egal sein.