Auf einer Hauswand im britischen Sutherland ist als Graffiti in Junge im rot-weiß gestreiften Shirt zu sehen - Werbung für Nissan.
Reportage

Britischer EU-Austritt Sunderland will raus - um jeden Preis

Stand: 16.03.2019 15:34 Uhr

Früher liefen im britischen Sunderland Schiffe vom Stapel. Heute ist das Nissan-Werk die letzte Hoffnung. Auch wenn es nach dem Brexit schließen könnte, wollen die Menschen die EU verlassen.

Sunderland, die Labour-Hochburg und Arbeiterstadt, hat beim Referendum 2016 mit 60 Prozent für den Brexit gestimmt. Heute spürt die Stadt in Nordengland die Folgen. "Ich dachte, Sunderland würde knapp dafür stimmen, in der EU zu bleiben", berichtet Bürgermeister Graeme Miller. "Ich dachte, die Bürger würden wegen der Arbeitsplätze bei Nissan und in der Zulieferindustrie knapp für die Mitgliedschaft in der EU stimmen. Doch das klare Votum für den Austritt zeigt, dass die Leute in Sunderland es ernst meinen."

Früher Schiffe - heute Autos

Einer von denen, die es ernst meinen, ist der 80-jährige Rentner Jim: "Ich wollte nie in der EU sein. Und je schneller wir jetzt raus kommen, desto besser. Wir haben Tausende und Abertausende Arbeitsplätze verloren", sagt er. Früher habe die Stadt den Schiffbau gehabt. Doch der sei nun weg, genauso wie die anderen Industrien. "Wir haben nichts mehr. Nur noch die Nissan-Fabrik. Ob wir nun in der EU bleiben oder nicht - auch diese Jobs werden verschwinden, wenn sie die Autos woanders billiger produzieren können", sagt Jim.

Sunderland war einmal der größte Schiffbaustandort der Welt. Doch dann kam Margaret Thatcher, die mit ihrer Wirtschaftspolitik in den 1980er-Jahren die englische Industrie platt und stattdessen die Banken groß machte - in London, nicht in Sunderland.

Marsch nach London

In Sunderland sind Brexit-Befürworter zu einem Protestmarsch ins 435 Kilometer entfernte London aufgebrochen. Die 100 bis 200 vorwiegend älteren Demonstranten warfen der Regierung Verrat vor, weil sich der Austritt Großbritanniens wohl verspätet. Sie riefen "Rule Britannia" und "Akzeptiert die Demokratie!". Die Ankunft ist für den 29. März vorgesehen, den ursprünglichen Brexit-Termin. Das Unterhaus hatte am Donnerstag für eine Verschiebung von drei Monaten gestimmt, weil sich keine Mehrheit darauf einigen konnte, zu welchen Bedingungen das Königreich die Union verlassen soll.

Größte Autofabrik auf britischem Boden

Im Minutentakt rauschen nun die Lastwagen aus dem Werkstor der Nissan-Fabrik in Sunderland, mit neuen Autos huckepack. Die Japaner stellen in der größten Autofabrik auf britischem Boden die Modelle Juke und Qashqai her, knapp eine halbe Million Neuwagen pro Jahr, zwei Drittel davon für Kunden in EU-Ländern auf dem Kontinent.

7000 Arbeitsplätze sind es allein in der Fabrik, 40.000 weitere Jobs bei den Zulieferern. Nissan, seit 1984 vor Ort, ist heute der größte Arbeitgeber in der Region Sunderland. Nach bisher unbestätigten Meldungen will das Unternehmen unter anderem wegen der Brexit-Unsicherheit die Produktion zurückfahren, eine von drei Schichten einstellen.

Geht Nissan nach Frankreich oder Spanien?

Definitiv aufgegeben hat der japanische Konzern den Plan, das neue Modell X Trail in Sunderland zu bauen. Es wird nun allein in Japan hergestellt. "Das ist ein Warnschuss an die Adresse der Regierung in London, sich endlich über die Folgen des Brexit im Klaren zu werden", meint Steve Bush von der Gewerkschaft Unite. "Wir wissen, dass Nissan jetzt die Pläne für die Zukunft macht und entscheidet, wo künftig produziert wird. Vor allem wenn es doch noch einen No-Deal-Brexit geben sollte, ist ziemlich klar, dass Nissan die Produktion verlagert, möglicherweise nach Frankreich oder Spanien."

Der Brexit droht das ohnehin schon wirtschaftlich angeschlagene Sunderland noch ärmer zu machen. Und trotzdem wollen die Menschen hier raus aus der EU und halten nichts von einer erneuten Volksabstimmung.

"Keine Lust auf ein neues Referendum"

Auch Bürgermeister Graeme Miller von der Labour Party weiß, wie seine Wähler in Sunderland ticken. "Die Leute in Sunderland haben keine Lust auf ein neues Referendum. Sie würden es als Missachtung der Volksentscheidung durch die Politik ansehen. Es würde unsere Demokratie in schlimmer Weise beschädigen. Wir haben den Bürgern ein Referendum gegeben, jetzt müssen wir dieses Ergebnis umsetzen, auch wenn mir das nicht gefällt.

Wenn Großbritannien einmal ausgetreten sei, halte ihn ja nichts davon ab, für den Wiedereintritt zu arbeiten. "Aber nun müssen wir erst einmal austreten."

Jens-Peter Marquardt, Jens-Peter, ARD London, 16.03.2019 11:42 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 16. März 2019 um 07:50 Uhr und 10:50 Uhr.