Westliche Konzerne Warum noch so viel Russland-Geschäft läuft
Nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine kündigten sehr viele westliche Unternehmen an, Russland zu verlassen. Tatsächlich getan haben das weniger als zehn Prozent, wie eine Studie zeigt.
Seit dem Angriff auf die Ukraine haben zahlreiche Konzerne aus dem Westen bekanntgegeben, sich aus Russland zurückzuziehen. Gerade zu Kriegsbeginn kamen dahingehend beinahe täglich neue Meldungen. Mittlerweile kündigten mehr als 1000 Firmen einer Übersicht der US-Eliteuniversität Yale zufolge an, dass sie ihre Aktivitäten im Land freiwillig in einem Maße einschränken, das über das von internationalen Sanktionen geforderte Minimum hinausgeht. Doch ob sie das auch wirklich tun, ist eine andere Frage.
Rückzug nicht gleich Rückzug?
Denn eine aktuelle Studie der Universität St. Gallen und der Wirtschaftshochschule IMD zeigt: Lediglich 8,5 Prozent der untersuchten 1404 Unternehmen aus G7- und EU-Staaten haben sich seit dem Einmarsch tatsächlich aus Russland verabschiedet. Vor dem Krieg seien 2405 Tochtergesellschaften in Russland aktiv gewesen. Bis Ende November habe allerdings nur ein Bruchteil der Konzerne mindestens eine ihrer Tochterfirmen verkauft, heißt es in der Analyse.
Auch auf der sogenannten "Liste der Schande" der renommierten Yale-Universität stehen nicht gerade wenige westliche Unternehmen, die in Russland weitermachen wie vor der Invasion. 226 Konzerne werden in der entsprechenden Kategorie F aufgeführt - darunter etwa die italienische Großbank UniCredit. Doch woher kommt diese große Diskrepanz zwischen dem Narrativ, die meisten Firmen würden Russland den Rücken kehren, und den 8,5 Prozent, die es wirklich tun?
"Erstmal ist eine wichtige Frage, wie man einen Rückzug aus Russland überhaupt definiert", erklärt Holger Görg, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), im Gespräch mit tagesschau.de. In der St. Gallen-Studie gehe es um Unternehmen, die ihre Niederlassungen komplett geschlossen oder abgestoßen haben. Unter einem Rückzug könne aber auch ein Auslieferungsstopp oder ein Schlussstrich bei Neuinvestitionen verstanden werden. Ein Grund sei zudem die genutzte Datenbank ORBIS, in der nur sehr große Unternehmen enthalten seien, so der Experte.
Moskau will Abzug von Investoren verhindern
Eine weitere Erklärung sind offenbar rechtliche Hürden für nicht-russische Konzerne, die mit ihren Aktivitäten im Land eigentlich abschließen wollen. "Die Liste der ausländischen Unternehmen, die Russland verlassen wollen, wird täglich länger. Die russische Regierung tut allerdings alles, um diesen Prozess zu behindern und hat die Bedingungen immer weiter verschärft", betont Michael Harms, Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft, gegenüber tagesschau.de. So bräuchten interessierte Investoren inzwischen "eine behördliche Genehmigung, teils sogar vom Präsidenten persönlich".
Zusätzlich wurde im Dezember des vergangenen Jahres eine Vorschrift erlassen, nach der Verkäufe von Geschäftsanteilen nur noch zu 50 Prozent des Marktpreises akzeptiert werden. Im Übrigen verdient der russische Staat bei den Transaktionen direkt mit und bekommt über Zwangsabgaben zehn Prozent des Kaufpreises. "Deshalb ist es kein Wunder, dass zwar eine deutliche Mehrheit der westlichen Investoren ihr Geschäft heruntergefahren hat, aber erst ein Bruchteil der ausländischen Unternehmen den Markt vollständig verlassen hat", sagt Harms. Ein Beispiel dafür ist Volkswagen: Der Autobauer stellte seine Produktion im russischen Kaluga im März 2022 ein, konnte das Werk aber noch nicht veräußern und ist damit juristisch noch in Russland vertreten.
Die Chance, nennenswerte Liquidationserlöse zu erzielen, sei für Unternehmen inzwischen gering, wie es aus Wirtschaftskreisen heißt. Der französische Autohersteller Renault gab seine russische Tochtergesellschaft zum Beispiel für einen Rubel ab und muss nun eine Abschreibung von zwei Milliarden Euro vornehmen. Dazu kommt, dass es wenig Nachfrage außerhalb von Russland gibt: "In der jetzigen Situation ist Russland nicht wirklich ein attraktiver Standort für Investoren", meint IfW-Präsident Görg. Der Marktwert der dort ansässigen Niederlassungen sei stark gesunken. "Daher müssen sich Unternehmen unter betriebswirtschaftlichen Aspekten sehr gut überlegen, ob sie bei diesen schlechten Marktbedingungen verkaufen wollen."
Russland-Abgang nicht nur moralische Frage
"Die Sanktionen der EU und USA gegen Russland beziehen sich auf sehr spezielle Branchen", erklärt Görg. Die meisten Unternehmen, die noch in Russland tätig sind, seien von den verhängten Exportverboten - etwa für Halbleiter oder Chemikalien, die zur Waffenproduktion genutzt werden können - nicht betroffen. "Es geht vor allem um eine moralische Frage - aber nicht nur."
Im Juni 2022 hatte sich das IfW in einer Studie damit beschäftigt, wie das Profil deutscher Unternehmen aussieht, die in Russland aktiv sind. Das Ergebnis: Besonders kleine Mittelständler sind stark vom russischen Markt abhängig, weil sie dort einen großen Anteil ihrer Produktion absetzen. "Diese Firmen müssten bei einem Rückzug aus Russland signifikante Einschnitte hinnehmen", sagt Görg. Da dessen Manager auch gegenüber ihren Eigentümern sowie Mitarbeitern eine Verantwortung hätten, sei die Entscheidung nicht immer leicht.
Mögliche Folgen für Angestellte vor Ort
Daneben verweist der Ökonom auch auf die zahlreichen Arbeitsplätze an den russischen Standorten. So begründete etwa der auf der Yale-Prangerliste stehende deutsche Handelskonzern Globus sein Festhalten am Russland-Geschäft im vergangenen Jahr mit seiner Verantwortung für die knapp 10.000 Angestellten in den 19 russischen Filialen. "Hier spielen zwar auch wieder betriebswirtschaftliche Punkte wie Profitabilität eine Rolle - aber möglicherweise auch die Fürsorge für Arbeitnehmer", so Görg.
Darüber hinaus können den Konzernen auch auf andere Art Konsequenzen drohen. Globus fürchtet neben einer Zwangsverstaatlichung auch strafrechtliche Folgen für das Management oder die Angestellten vor Ort, wenn sie nicht mehr arbeiten. Auch SAP hatte im April 2022 mitgeteilt, bei der Einstellung des Vertriebs und des Geschäfts mit russischen Bestandskunden vorsichtig agieren zu müssen, da lokale Angestellte in Haftung genommen werden könnten. Beim Öl- und Gasunternehmen Wintershall Dea, der nach langem Zögern nun doch einen vollständigen Rückzug aus Russland plant, hat der russische Staatskonzern Gazprom nach eigenen Angaben die Konten der drei gemeinsamen Gas- und Ölförderfirmen "geleert", wie CEO Mario Mehren jüngst der "Börsen-Zeitung" sagte.
"Noch Luft nach oben"
Dennoch gibt es viele Stimmen, die das Verbleiben kritisch sehen. "Unternehmen, die weiterhin in Russland tätig sind oder den russischen Markt beliefern, tragen dazu bei, dass sich der Staat weiterhin finanzieren und damit auch den Angriffskrieg gegen die Ukraine weiterführen kann", sagte Sebastian Hoppe, Russland-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, kürzlich dem "Handelsblatt". Der russische Wirtschaftskreislauf profitiere etwa durch Steuern und Gehälter.
"Natürlich könnte es mehr sein", meint auch Görg. Es gebe "schon noch Luft nach oben". Aber: "Je länger die russische Invasion andauert und je mehr Druck aufgebaut wird, desto mehr Unternehmen werden sich dazu entschließen, sich aus Russland zurückzuziehen", glaubt der IfW-Präsident. Denn für die Wahrnehmung und damit auch den Absatz der westlichen Unternehmen sei ein Verbleib nicht gerade förderlich.
Einige Firmen hätten jedoch teils gute Argumente - wie humanitäre Aspekte. Mit Fresenius, Siemens Healthineers, dem Medizintechniker Braun und dem Arzneimittelhersteller Stada bekommen vier deutsche Unternehmen aus dem Gesundheitssektor die schlechteste Note von der Yale-Universität. Der Zugang zu medizinischer Versorgung sei aber "ein Menschenrecht", begründete Siemens Healthineers. Auch von Fresenius hieß es: "Wir können unsere Patientinnen und Patienten dort nicht einfach im Stich lassen."
Besonders viele deutsche Firmen noch in Russland
Insgesamt sind laut der Universität St. Gallen und IMD noch immer 1284 der EU- oder G7-Firmen in Russland aktiv. An der Spitze steht Deutschland mit rund 250. Das ist Görg zufolge wenig überraschend: "Deutschland ist einer der größten Investoren in Russland und einer der engsten Partner." Länder hätten auch unabhängig von der Politik Handelsbeziehungen und Verflechtungen mit anderen großen und naheliegenden Volkswirtschaften.
"Wir haben daher einen größeren Bestand an dort aktiven Unternehmen als andere Staaten, haben aber durchaus auch viele Firmen, die sich zurückziehen", ergänzt der IfW-Experte. Bei den 120 westlichen Unternehmen, die Russland verlassen haben, folgt Deutschland mit einem Anteil von 11,7 Prozent nach den USA und Finnland auf Platz drei.
Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft verweist außerdem auf die deutlich gesunkenen Exporte nach Russland. Die deutschen Auslieferungen seien im vergangenen Jahr so niedrig ausgefallen wie seit 2003 nicht mehr. Der Rückgang betrug im Vergleich zum Vorjahr rund 45 Prozent. "Auch daran sieht man, dass das Russland-Geschäft deutscher Unternehmen erheblich an Umfang verliert", sagt Geschäftsführer Harms.