Gipfel in Washington Personalsorgen zum NATO-Jubiläum
32 Staats- und Regierungschefs treffen sich ab heute zum NATO-Gipfel. Einige wie Biden oder Macron sind angeschlagen und politisch unter Druck. Das könnte die Feierlaune zum 75. Jubiläum trüben.
75 Jahre nach ihrer Gründung ist die NATO in bester Verfassung, einig und fit wie selten zuvor. Das ist die Botschaft, die eigentlich von der Jubiläumsfeier in Washington ausgehen sollte. Wenn man auf die bloßen Fakten blickt, ist das nicht einmal übertrieben. Mit Schweden und Finnland hat die Allianz zwei neue, starke Mitglieder bekommen, die durch ihren Beitritt nicht nur die eigene Sicherheitslage verbessern konnten, sondern dank ihrer Verteidigungsfähigkeit auch die für die NATO riskante Lage im gesamten Ostseeraum stabilisieren helfen.
Zwei Drittel der Mitglieder erreichen Zwei-Prozent-Ziel
Oder das lange illusorisch erscheinende Zwei-Prozent-Ziel: Pünktlich zur Geburtstagsfeier schaffen es zwei Drittel der NATO-Mitgliedsländer, darunter auch Deutschland. Ohne hörbares Murren der Gesellschaften werden in 23 Nationen mindestens zwei Prozent der gesamten Wirtschaftskraft für das Militär ausgegeben, das ist doppelt so viel wie vor dem Ukraine-Krieg.
Und schließlich, auch das gehört zur Erfolgsgeschichte der Allianz: Die NATO steht heute geschlossener da als vor Putins Einmarsch in die Ukraine. Ernsthafte Zweifel an der Notwendigkeit eines kollektiven Verteidigungsbündnisses gibt es nicht mehr, allenfalls an den politischen Rändern. Das war beim letzten großen Jubiläum, dem fünfzigsten, noch anders. Da wurde gefragt, welchen Sinn ein so hochgerüstetes Bündnis überhaupt noch macht. Der Westen sah sich von Freunden umzingelt.
Ein Gipfel mit angeschlagenen Spitzenpolitikern
Aber Abschreckung funktioniert nicht nur über Fakten. Der äußere Eindruck spielt eine Rolle. Und in Washington könnte der Eindruck aufkommen, dass bei der Jubiläumsfeier ziemlich angeschlagene Spitzenpolitiker zusammenkommen. Ausgerechnet der Gastgeber ist sichtbar geschwächt. Joe Biden steht an der Spitze der größten Militärmacht der Welt, aber beim Gipfel in Washington werden wieder alle Augen darauf gerichtet sein, wie er die Treppenstufen bewältigt und ob er mehrere Sätze unfallfrei zu Ende bringen kann.
Geschwächt wird auch Emmanuel Macron aus Paris anreisen. Frankreichs Präsident ist Chef der einzigen Atommacht in der EU. Selbst wenn er mit der ihm eigenen Selbstgewissheit nach Washington kommt, dass er zu Hause gerade noch das Schlimmste verhindern konnte, wird nichts daran ändern, dass er keine regierungsfähige Mehrheit mehr hinter sich hat. Mit welcher Regierung Macron künftig Politik machen kann, ist völlig ungewiss. Sicher ist nur, dass die Rechtsextremen im Mutterland der Menschenrechte so stark in der Assemblée Nationale vertreten sind wie niemals zuvor.
Scholz' Situation könnte besser sein
Dagegen nehmen sich die Probleme von Olaf Scholz fast schon überschaubar aus. Aber auch der Bundeskanzler ist durch die letzte Europawahl geschwächt, seine Koalition läuft nicht gut und - wichtig mit Blick auf die Diskussionen in der NATO - die Mehrausgaben für Rüstung fallen im Bundeshaushalt geringer aus als erwartet.
Was Frankreich und den Osten Deutschlands verbindet, ist der Zuspruch von ungefähr einem Drittel der Menschen für Parteien, die aus ihrer Nähe zu Russlands Präsident Wladimir Putin, dem Systemfeind der Allianz, kein Geheimnis machen. Marine Le Pen hat sich von dem russischen Diktator schon mal den Wahlkampf mit mehreren Millionen finanzieren lassen, AfD-Politiker werden der Spionage für Russland verdächtigt.
Stoltenberg hofft auf weitere Ukraine-Hilfen
Der Jubiläumsgipfel fällt in eine schwierige Zeit, aber die NATO hat geliefert, gerade im Ukraine-Krieg - diese Botschaft will der scheidende Generalsekretär der Allianz, Jens Stoltenberg, in Washington in den Mittelpunkt stellen. "Seit Russland in die Ukraine einmarschiert ist, haben die Alliierten Militärhilfe im Wert von 40 Milliarden Euro pro Jahr geleistet", rechnet Stoltenberg vor.
Er hofft, dass die Alliierten in Washington versprechen, auch in Zukunft Militärhilfe in gleicher Höhe zu leisten - 40 Milliarden Euro pro Jahr. "Die Ukraine braucht Verlässlichkeit und Planbarkeit", sagt Stoltenberg und erinnert an den Schock vom Anfang des Jahres, als wochenlang keine Waffen mehr aus den USA kamen, weil die Republikaner das nicht zuließen. "Das hat die Ukraine auf dem Schlachtfeld in erhebliche Schwierigkeiten gebracht." Der Lieferstopp gab der NATO einen Vorgeschmack auf die Probleme, die eintreten könnten, wenn Donald Trump ein zweites Mal ins Weiße Haus einzieht. Die Europäer könnten von heute auf morgen auf sich allein gestellt sein.
Gesucht: Gerechtere Lastenverteilung unter den Alliierten
Auch darauf will man sich in Washington vorbereiten, es geht um eine gerechtere Lastenverteilung unter den Alliierten. Dass die Europäer mehr für die eigene Sicherheit tun müssen, hat inzwischen jeder auf dem Kontinent verstanden. Aber auch unter den Europäern gibt es große Unterschiede. Stoltenberg hat den NATO-Außenministern im Juni in Prag einen Lösungsvorschlag unterbreitet und ist damit gescheitert. Die Alliierten sollten die Ukraine anteilig gemäß ihrer Wirtschaftskraft unterstützen. Das hätte hohe Zusatzkosten für Länder wie Frankreich, Italien und Spanien bedeutet. Die drei großen EU-Länder halten sich bisher bei der Ukraine-Hilfe zurück. Zurückhaltung wird insbesondere bei der Bereitstellung von Flugverteidigungssystemen geübt.
Die Ukraine braucht sie dringend, sieben vom Typ "Patriot" oder vergleichbare Systeme sollten es bis zum Gipfel schon sein, das hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj als Wunschziel formuliert. Aus Deutschland kommen drei, aber ob es in Washington wirklich vier verbindliche Zusagen anderer Länder gibt, ist noch offen. "Wir kratzen von unten an den sieben", sagt ein NATO-Diplomat. Man arbeite daran.
Auf Hochtouren liefen bis zuletzt auch die Bemühungen der Diplomaten, eine konsensfähige Formulierung zur heiklen Frage des NATO-Beitritts der Ukraine zu finden. Auf der einen Seite will man dem ukrainischen Präsidenten entgegenkommen, auf der anderen Seite aber keine Zugeständnisse in der Sache machen. Die Ukraine kann mit der Aufnahme rechnen, das ist in mehreren Gipfeldokumenten seit 2008 verbrieft, aber ein Zeitpunkt für den Beginn von Verhandlungen dürfte auch in Washington nicht genannt werden, dafür gibt es unter den NATO-Ländern keinen Konsens.