Nach dem Anschlag auf den russischen Ex-Geheimdienstmitarbeiter Skripal nehmen Ermittler Spuren auf
Interview

Interview zu "Tiergartenprozess" "Der russische Staat ist kriminell geworden"

Stand: 07.10.2020 13:47 Uhr

Der russische Menschenrechtler Petrow sieht den Mord im Tiergarten in einem Zusammenhang mit anderen Anschlägen auf russische Oppositionelle. Im Interview mit dem ARD-Studio Moskau spricht er von Staatsterrorismus und der Tradition totalitärer Handlungen.

ARD: Was erwarten Sie von dem Prozess?

Nikita Petrow: Ich erwarte, dass der Angeklagte seine Schuld höchstwahrscheinlich nicht zugeben wird. Die Mitarbeiter der russischen Botschaft werden aber alles sehr genau verfolgen, damit die Verbindung dieser Person zu den russischen Geheimdiensten, die für mich offensichtlich ist, nicht so deutlich wird. Also etwa: Wer ihn angeheuert hat, wer ihn bezahlte und wer ihm die Waffe besorgte. Das alles wird man versuchen zu verschleiern, weil das einen offensichtlichen Bezug zum russischen Staatsterrorismus darstellen würde.

ARD: Genau diese Fragen werden das Gericht aber wohl am meisten interessieren ...

Petrow: Sicher wird das Gericht versuchen, den Fall aufzuklären. Sehr oft rechtfertigt man solche Sachen in Russland damit, dass der Täter kein Motiv hatte. Aber ein Auftragskiller hat immer nur ein Motiv, entweder einen Befehl oder Geld. In diesem Fall ist schon die Geschichte dieses Mannes interessant, wie er nach Deutschland kam, woher er überhaupt kam - und warum er einen Pass hatte, der noch schlechter gemacht war als der Pass von den Geheimdienst-Leuten, die man 2018 in Großbritannien identifizierte, nachdem sie versucht hatten, (den früheren russischen Geheimdienst-Mitarbeiter, Anm. der Redaktion) Sergej Skripal zu vergiften. Es sieht so aus, als ob der Angeklagte zu einer anderen Abteilung gehört. Nicht zu einer militärischen, sondern eher zur politischen Aufklärung oder zum Inlandsgeheimdienst FSB.

Nikita Petrow
Zur Person

Nikita Petrow ist ein russischer Historiker und gilt als Experte für sowjetische Geheimdienste. Er ist stellvertretender Vorsitzender der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial".

"Eine absolut typische Geschichte"

ARD: Ist das eine typische Geschichte für russische Geheimdienste?

Petrow: Wenn wir von der letzten Zeit sprechen, dann ist das eine absolut typische Geschichte, weil wir gerade jetzt ganz klar die Auswüchse des russischen Staatsterrorismus sehen. Da gibt es den Mord an Alexander Litwinenko im Jahr 2006 oder den Versuch, die Skripals zu vergiften - was nicht gelang, aber eine Engländerin starb an dem eingesetzten Nervengift. Und es ist dieser Fall im Berliner Tiergarten. Jetzt sehen wir, dass Russland sich überhaupt nicht schämt, wenn solche Sachen schief gehen oder bekannt werden. Der russische Staat leugnet das einfach und hält ein solches Verhalten für normal, obwohl es unzulässig und unannehmbar ist. Ich wiederhole: Das ist Staatsterrorismus.

ARD: In Deutschland war man schockiert über den Fall, während es in Russland die breite Gesellschaft nicht zu interessieren scheint. Wie kommt das?

Petrow: In Russland gibt es kaum noch freie Presse. Wer noch über solche Themen schreibt, ist auch nur mehr oder weniger frei. Die "Nowaja Gaseta" zum Beispiel analysiert wirklich und informiert die Leser über die Recherchen auch von unabhängigen Gruppen. Aber die offizielle Presse und das Fernsehen verschweigen solche Themen - erstens, um das Image von Russland nicht zu beschmutzen, und zweitens versuchen sie es irgendwie zu verleugnen, indem sie unterstreichen, dass Russland damit nichts zu tun hat.

In diesem Fall wird das in der russischen Gesellschaft nicht diskutiert, weil sich die Gesellschaft damit abgefunden hat, dass der Staat offen und unverschämt Gewalt anwenden kann. Aber die deutsche Gesellschaft ist auf so etwas nicht vorbereitet und fragt sich, wie ein Staat solche Befehle erteilen kann. Es geht doch nicht um einen Krieg oder eine Kampfzone oder den Kampf gegen den Terrorismus. Es geht explizit um politisch motivierten Auftragsmord.

"Es sieht wie eine logische Weiterführung aus"

ARD: Wie ist es so weit gekommen?

Petrow: Das ist einfach zu beantworten: Der russische Staat ist kriminell geworden. Wenn der russische Staat die Normen des internationalen Rechts missachtet, die Krim okkupiert und im Osten der Ukraine Krieg führt, was ist denn dann noch verwunderlich? Solche Anschläge und Morde sehen im Vergleich dazu wie eine logische Weiterführung aus oder wie ein Beiwerk.

ARD: Ist das ein neuer Weg oder hat das seinen Ursprung in der Sowjetzeit?

Petrow: Das ist kein neuer Weg, das ist leider die Rückkehr zu den schlimmsten sowjetischen Praktiken, den Praktiken des totalitären Staates, dem die internationale öffentliche Meinung egal ist. Er macht, was er will. Und dann versucht er irgendwie, die Imageverluste zu minimieren, die unvermeidlich sind.

ARD: Sie sind Historiker: An welche Ereignisse in der Sowjetunion erinnert sie das?

Petrow: In den letzten Jahren der Stalinherrschaft wurden tatsächlich viele solcher Anschläge geplant. Da war ein Anschlag auf Josip Broz Tito geplant, den Staatschef von Jugoslawien. Solche Sachen waren normal für die sowjetische Führung. Und dass sie heute wieder in den Köpfen der politischen Führung sind und zu ihrer Praxis gehören, zeugt einerseits von festen politischen Angewohnheiten und zweitens von einer exakten Identifizierung der Machthaber im Kreml mit der langen Tradition des sowjetischen totalitären Staates.

"Verdächtige Todesfälle müssen untersucht werden"

ARD: Wer ist in Gefahr, Opfer eines Anschlags zu werden?

Petrow: Das muss vor allem eine Person sein, die aus den einen oder anderen Gründen dem Kreml massiv im Weg steht. Es ist ja klar, dass nicht alle, die den Kreml kritisieren, so behandelt werden. Aber gegen die bedeutendsten Gegner des Kremls können schon solche kriminellen Methoden angewendet werden. So wurde zum Beispiel Jagd auf ehemalige russische Unternehmer in London gemacht. Wir haben von verdächtigen Todesfällen dort gelesen, die möglicherweise das Ergebnis von Gewaltverbrechen waren. Das war getarnt als Krankheit oder plötzlicher Tod. In jedem dieser Fälle muss es eine ausführliche Untersuchung geben.

Nach dem Giftanschlag auf Alexej Nawalny hat zumindest Deutschland seine Position klar formuliert, und das ist richtig. Man darf das nicht durchgehen lassen, weil es hier nicht nur um Verletzung von russischen Gesetzen geht, sondern um die Verletzung internationaler Verträge der Russischen Föderation über die Nichtverbreitung und Nichtanwendung von Chemischen Waffen. Im Fall von Nawalny geht es um Kampfgifte. Das ist ein eklatantes Beispiel dafür, wo die internationale Gemeinschaft eine konsolidierte Position einnehmen und härteste Sanktionen verhängen muss. Wir haben es hier mit einer sehr gefährlichen Tendenz zu tun.

ARD: Wer trifft solche Entscheidungen?

Petrow: Ich habe keinen Zweifel daran, dass in Russland eine solche Entscheidung ganz oben getroffen wird, weil das politische System eine Machtvertikale ist. In der Machtvertikale gibt es keinen Platz für irgendwelche Einwirkungen von der Seite. Hier wurden die Stoffe angewandt, die viel Geld kosten und die kein einzelner Mensch sich leisten könnte. Das macht der Staat. Damit meinen wir die Geheimdienste. Sie unterstehen ausschließlich dem Präsidenten. Es besteht hier kein Zweifel. Zu sagen, dass es der eine oder andere im Kreml nicht wusste? Es haben die Bescheid gewusst, die es ganz oben wissen mussten.

"Wenn wir Angst haben, sind wir nicht mehr frei"

ARD: Warum haben Sie persönlich keine Angst, so offen darüber zu sprechen?

Petrow: Wenn wir vor allem Angst haben, dann sind wir nicht mehr frei. Wenn wir Angst haben davor, dass man uns für diese Worte bestraft, für diese Vermutungen, hören wir auf, uns selbst zu gehören. Dann wäre die russische Gesellschaft verloren. Wir haben ja so schon so praktisch keine Zivilgesellschaft in der Russischen Föderation, und gegen sie kämpft der Staat verbissen. Wir sehen doch, wie viele als Ausländische Agenten abgestempelt werden. Wir sehen diese Paranoia, die in den Rang einer Staatspolitik erhoben wird, und das ist sehr traurig. Wenn wir alle Angst haben, dann erreichen die ihr Ziel. Das wird dann eine absolut hörige und steuerbare Gesellschaft, die eher einer Herde von Schafen gleicht.

Das Interview führte Demian von Osten, ARD-Studio Moskau.

Das Interview führte Demian von Osten, ARD Moskau

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten am 07. Oktober 2020 die tagesschau um 14:00 Uhr und tagesschau24 um 15:10 Uhr.