Brexit-Verhandlungen Brüssel wartet auf London
Noch sind nicht viele Details aus dem möglichen Brexit-Abkommen bekannt. Brüssel reagiert bislang verhalten. Denn vor einer Einigung stand man schon einmal.
In Brüssel will man das Wort "Einigung" vorerst noch nicht in den Mund nehmen. Auch von "Durchbruch" spricht offiziell niemand. Immerhin hat die Kommission inzwischen bestätigt, dass sich die Brexit-Unterhändler auf "Elemente eines Austrittsabkommens" geeinigt haben. Chef-Verhandler Michel Barnier habe die Kommissare bereits ausführlich informiert, so ein Sprecher der Behörde.
Politisch ist der nun vorliegende Textentwurf aber noch nicht abgestimmt. Und mit Blick auf den laufenden Prozess in London und Brüssel wolle man keine weiteren Einzelheiten nennen, heißt es.
Die vorsichtigen Reaktionen haben einen Grund. Eine ähnliche Situation wie diese hatte es vor gut vier Wochen - kurz vor dem letzten EU-Gipfel - schon einmal gegeben, als die Brexit-Gespräche vermeintlich unmittelbar vor dem Abschluss standen. Damals hatte die britische Premierministerin Theresa May jedoch in letzter Minute kalte Füße bekommen und ihren Unterhändler Dominic Raab zurückgepfiffen.
Endspiel um den Brexit
Diesmal jedoch gibt es starke Indizien, dass May den Prozess vorantreiben will und das Endspiel um den Brexit tatsächlich begonnen hat. So bestätigten Diplomaten dem ARD-Studio Brüssel, dass die nachmittägliche Sitzung der 27 EU-Botschafter, also der Ständigen Vertreter der Mitgliedsstaaten, um einen Extra-Tagesordnungspunkt erweitert wurde. Er lautet "State of Play", zu deutsch "Bestandsaufnahme".
An dem Treffen, das etwa zeitgleich mit der Sitzung des britischen Kabinetts stattfindet, wird auch die stellvertretende EU-Chefunterhändlerin Sabine Weyand teilnehmen, um den Stand der Dinge in Sachen Brexit zu erläutern.
Käme das Gremium zu dem Schluss, dass das erzielte Ergebnis belastbar ist, könnte EU-Ratspräsident Donald Tusk für den 25. November jenen Brexit-Sondergipfel ansetzen, über den schon seit Wochen spekuliert wurde. Die Staats- und Regierungschefs könnten dann das Austrittsabkommen formell billigen. Dass der Termin allerdings schon heute offiziell verkündet wird, ist nach den Worten eines EU-Diplomaten eher unwahrscheinlich.
400 Seiten, zwei Dokumente
Auch worauf sich EU-Vertreter und Briten im Detail verständigt haben, ist noch unklar. Bekannt ist bisher nur, dass der vorliegende Entwurf rund 400 Seiten umfasst und aus zwei Dokumenten besteht: dem eigentlichen Scheidungsvertrag und einer rechtlich nicht verbindlichen Erklärung zu den künftigen Beziehungen.
Geeinigt hat man sich zuletzt auch im schwierigsten Punkt, der Auffanglösung für Nordirland, die eine harte Grenze auf der irischen Insel dauerhaft verhindern soll. Diese auf Englisch "Backstop" oder "Rückversicherung" genannte Klausel war über Monate hinweg hoch umstritten gewesen.
Theresa May gibt sich nach der möglichen Einigung optimistisch. Erhebliche Widerstände erwarten sie im Parlament und in der eigenen Partei.
Vorübergehender Verbleib in einer Zollunion
Demnach würde Großbritannien zusammen mit Nordirland vorübergehend weiter in einer Zollunion mit der EU bleiben, sollten beide Seiten bis zum Ablauf der knapp zweijährigen Übergangsphase keine bessere Regelung über ihre künftigen Wirtschaftsbeziehungen finden. Nordirland bliebe sogar de facto weiter im Binnenmarkt. Diese im Fachjargon als "Swimmingpool" bezeichnete Variante, mit quasi zwei Becken - einem flacheren und einem tieferen - würde dafür sorgen, dass der Warenverkehr auch nach dem Brexit relativ reibungslos fließen würde. Um die Kritiker auf britischer Seite zu überzeugen, ist zudem eine Art unabhängiger Mechanismus geplant, der die Lösung ab Sommer 2020 überprüfen soll.
Ob die Grundsatzeinigung auf Verhandlerebene auch politisch zum Tragen kommt und ein chaotischer Brexit noch rechtzeitig abgewendet werden kann, hängt nun entscheidend von der Zustimmung des britischen Unterhauses ab. Beobachter in Brüssel rechnen damit, dass Premierministerin May erhebliche Widerstände überwinden muss, um den Scheidungsvertrag im Parlament und in der eigenen Partei durchzubringen.
Auf europäischer Ebene dürfte der nun gefundene Kompromiss dagegen eine breite Mehrheit finden.