Ein Jahr Meloni in Italien Die Schein-Gemäßigte?
Seit einem Jahr ist Meloni Regierungschefin in Italien. Nach ihren Wahlversprechen erwarteten viele eine ultrarechte Politik. Doch bislang zeigt sie sich zurückhaltend. Alles nur Schein?
Lampedusa, Via Bonfiglio, mitten im Zentrum des kleinen Ortes. Aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger der Mittelmeerinsel lassen ihre Wut raus angesichts der Ankunft von mehreren Tausend Migrantinnen und Migranten innerhalb weniger Tage.
Die Wut richtet sich gegen Giorgia Meloni, als sie sich vergangenen Woche mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen kurz dem Gespräch auf Lampedusa stellt. Für Meloni eine ungewohnte Erfahrung: Ein Jahr nach ihrem Wahlsieg ist Italiens Ministerpräsidentin auch mal mit Protesten konfrontiert.
Es war ruhig seit der Wahl - bislang
Generell ist es den vergangenen zwölf Monaten politisch weitgehend ruhig geblieben im Land. Auch der Bologneser Politikprofessor Piero Ignazi sagt über Melonis erstes Jahr: "Ich bin ziemlich angenehm überrascht. Es war viel Schlimmeres zu befürchten angesichts der Vorschläge ihrer Partei im Wahlkampf." Diese seien gefährlich gewesen für die Demokratie, die Wirtschaft und die Gesellschaft.
"Bislang aber", urteilt Ignazi über die bisherige Arbeit der Ministerpräsidentin, "bewegen wir uns in ruhigem Fahrwasser". Die Betonung auf "bislang" ist Ignazi wichtig, der seit mehr als 30 Jahren Italiens extreme Rechte beobachtet und Melonis politischen Werdegang von Anfang an verfolgt hat.
Melonis Umfragewerte sind gut
Als erste Politikerin mit neofaschistischen Wurzeln, zu denen sie bis heute steht, ist Meloni Regierungschefin geworden. Nach einem Jahr im Amt ist die Zustimmung für sie sogar noch gewachsen, ihre Partei "Brüder Italiens" die mit Abstand stärkste politische Kraft im Land. In Umfragen liegt sie bei rund 30 Prozent, mit einem Vorsprung von rund zehn Prozentpunkten vor der größten Oppositionspartei.
Meloni ist erfolgreich, weil sie bislang vorsichtig agiert und Entscheidungen, die polarisieren und sie angreifbar machen könnten, weitgehend vermeidet. Vor allem international verzichtet die 46-Jährige auf aggressive Rhetorik. Ihre Partner in Europa schätzen sie nicht zuletzt für ihre Unterstützung der Ukraine.
In der europäischen Politik angekommen
Nino Galetti von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Rom beurteilt Melonis EU-Politik als "ausnehmend gemäßigt". Sie habe sich eingereiht in die europäische Politik. Dies gelte, meint Galetti, im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik, mit Blick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, "aber auch im Bereich Wirtschafts- und Haushaltspolitik".
Meloni habe sich, findet der Römer Büroleiter der Adenauer-Stiftung, zu einer "nationalkonservativen Politikern" entwickelt. Die Raten der Milliarden-Hilfen aus dem "NextGenerationEU"-Wiederaufbaufonds sind für Rom auch unter der neuen Regierung pünktlich geflossen.
Zerstrittene Opposition
Für Aufsehen in Italien hat Meloni in ihrem ersten Jahr gesorgt, als sie, wie im Wahlkampf angekündigt, das sogenannte Bürgergeld gestrichen hat. Es blieb aber bei regional begrenzten Protesten von Sozialhilfeempfängern. Auch weil Italiens Opposition nach wie vor zerstritten und dabei ist, sich neu aufzustellen.
Auf die Straße gegangen ist die LGBTQ+-Gemeinschaft. Schwule, Lesben, Transgender. Aus Protest gegen eine Entscheidung Melonis in der Familienpolitik, die sie als Zeitenwende empfinden. Es soll nun Gefängnisstrafen geben gegen Italienerinnen und Italiener, wenn sie irgendwo auf der Welt ein Kind per Leihmutterschaft bekommen.
Paolo aus Rom, der mit seinem Partner Marco einen Sohn hat, sagt: Sie als homosexuelle Eltern fühlten sich von der neuen Regierung behandelt wie Kriminelle. "Wir sind Kriminelle für sie. Nichts weniger als das". Unter Meloni, findet Paolo, vollziehe sich in Italien eine kulturelle Wende. Nach und nach, befürchtet der Betreiber einer Espressobar in der Nähe der Via Veneto, werde diese Wende auch andere Minderheitsgruppen im Land treffen.
Bewährungsprobe Migration
Eine harte Hand hat Meloni seit ihrem Wahlsieg vor allem dann gezeigt, wenn sie unter Druck war. Aktuell mit ihrer Entscheidung, für Migranten ohne Bleiberecht die Abschiebehaft auf 18 Monate zu verlängern und Kaution von ihnen zu verlangen. Auch auf zahlreiche Fälle von Jugendkriminalität in Süditalien, die tagelang die Schlagzeilen bestimmten, reagierte die rechte Regierung. Jugendlichen ab 14 Jahren droht nun bei Gesetzesverstößen sehr schnell Gefängnis.
Migration und innere Sicherheit - ausgerechnet zwei Themen, die Meloni im Wahlkampf wichtig waren, brachten sie etwas in Schwierigkeiten. Generell aber hat die Regierungschefin in ihrem Premierenjahr von fast idealen Rahmenbedingungen profitiert. Keine großen Krisen, die Bündnispartner folgsam, die Opposition schwach, die Gewerkschaften halten still.
Ignazi: "Man darf sich nicht vom Anschein täuschen lassen"
Politikprofessor Ignazi sagt allerdings, wir hätten von Meloni noch nicht alles gesehen. Die vor einem Jahr vom Magazin "Stern" auf dem Titelblatt gestellte Frage, ob Meloni die gefährlichste Frau Europa sei, beantwortet Ignazi immer noch mit Ja: "Sie bleibt es, trotz ihres freundlichen Auftretens. Man darf sich vom Anschein nicht täuschen lassen."
Zwar laufe bislang alles relativ gut, meint Ignazi, aber: "Wenn es eine Situation der Krise, der Schwierigkeiten, der Spannungen gibt, werden wir sehen, ob das, was lange Zeit ihr Wesen war, zum Vorschein kommen wird."