Ein Armeeoffizier schließt das Tor eines Auffanglagers für Migranten, während Migranten im Inneren sitzen.
analyse

Migranten auf Lampedusa Wie akut ist diese Krise?

Stand: 19.09.2023 16:23 Uhr

Während Lampedusa um Hilfe ruft, sind sich Migrationsexperten einig: Es handle sich um eine politische statt um eine humanitäre Krise. Für Deutschland sei ein anderer Hotspot entscheidender.

Sie sei einfach nur enttäuscht, sagt die Betreiberin einer Unterkunft auf Lampedusa über die jüngsten Besuche von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Regierungschefin Georgia Meloni: "Jetzt warten wir halt auf den Besuch von Giuseppe Conte." Der Chef der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung soll als nächster nach Lampedusa kommen. Ständig kursieren neue Gerüchte unter den Insulanern, was nun aus den Tausenden jüngst angekommenen Migranten werden wird. Ihre große Sorge ist, ein zweites Lesbos zu werden - indem ein großes Zeltlager entsteht, in dem mehr als 5.000 Menschen leben.

Die Bewohner der italienischen Mittelmeerinsel schwanken nach all den Jahren, in denen Flüchtlinge mit Booten auf Lampedusa ankamen, zwischen Hilfsbereitschaft, Empathie, Ängsten und Zweifeln. Immer wieder gibt es Ereignisse, die die Menschen besonders bewegen: zuletzt, als ein fünf Monate altes Baby ins Wasser fiel und ertrank. Die Küstenwache wollte Migranten von einem Boot an Land bringen. Es war Nacht, das Kind konnte nicht gerettet werden.

Auch die Bewohnerin, die mit tagesschau.de spricht und in dieser polarisierten Debatte nicht namentlich genannt werden möchte, spendete sofort Kinderkleider und Spielzeug, räumt am Hafen auf. An jenem Tag vergangene Woche, als Tausende Menschen ankamen, hätten die Restaurants geschlossen, weil sie ihr Essen den hungrigen Menschen gegeben hätten, erzählt sie. Aber sie fragt: "Wie lange sollen wir das machen? Und dann die Absagen der Touristen, die ganzen Reste von den Booten im Hafen. Das hat für uns auch wirtschaftliche Folgen."

Von der Leyen und Meloni

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Italiens Regierungschefin Georgia Meloni besuchten Lampedusa am Wochenende.

Anstieg nicht unerwartet

Die Zahl der Ankünfte auf Lampedusa steigt bereits seit dem Frühjahr. Laut dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) sind von Januar bis August 2023 260 Prozent mehr Menschen in Tunesien in Boote gestiegen als im Vorjahreszeitraum. Vincent Cochetel ist als UNHCR-Sonderbeauftragter für das Mittelmeer die Stimme der UN-Organisation. Er meint, der Anstieg ließe sich erklären: "Es ist das Gefühl 'Jetzt oder nie' und eine Art von Panik."

Wer es nach Tunesien schaffe, lande dort auf der Straße und müsse Angst um die eigene Sicherheit haben. Denn die tunesischen Behörden seien überfordert, sagt er: "Wir hören ja alle diesen 'politischen Imperativ', dass was passieren muss. Aber wo sollen die Leute denn hin? Es gibt keine legalen Fluchtwege für Menschen aus dem Sudan zum Beispiel, wo Krieg ist."

Politiker der EU vermuten zudem, der tunesische Präsident Kais Saied könnte angeordnet haben, dass der tunesische Grenzschutz die Boote ablegen lässt. Von der Leyens Besuch in Tunis im Juli scheint nicht die beabsichtigte Wirkung erzielt zu haben: Die gemeinsame Absichtserklärung zwischen Tunesien und der EU blieb am Ende vage, die von der EU ausgelobten Gelder 100 Millionen Euro waren zweckgebunden für den Grenzschutz - weitere Millionen sollten nur fließen, wenn Tunesien bestimmte Voraussetzungen erfüllt.

Möglicherweise war da ein Angebot Saudi-Arabiens nur wenige Tage später reizvoller, um die Wirtschaftskrise zu überwinden: 500 Millionen US-Dollar Kredit bot das Königreich dem Land an, zinslos und ohne Bedingungen.

"Schlechtes Situationsmanagement"

Erlebt Europa und allen voran Lampedusa derzeit eine Krise? Cochetel vergleicht die Situation mit anderen Ländern und schüttelt den Kopf. In den Tschad seien im gleichen Zeitraum viermal so viele Menschen geflohen - Sudanesen, die vor dem Krieg fliehen: "Man muss die Zahlen schon etwas ins Verhältnis setzen. Das Gefühl einer Krise entsteht durch das schlechte Management dieser Situation."

Die Inselbewohnerin sieht es anders; für sie ist es auf jeden Fall eine Krise. Das macht sie vor allem daran fest, dass das Aufnahmezentrum überfüllt sei: In den vergangenen Jahren haben italienische Behörden die 450 Plätze des kleinen Lagers nicht aufgestockt. Jedoch waren zeitweise 6.000 Menschen dort untergebracht.

Zu wenige Plätze für neue Ankünfte vorzuhalten, könne politisch gewollt sein, hat die Migrationsexpertin Victoria Rietig von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) als politische Strategie in einigen Ländern beobachtet: "Man kann auch eine Krise herstellen, indem man zu wenige Plätze vorhält. 450 Plätze sind nicht viel. Italien will diese Krise nicht alleine bewältigen", sagt sie. Von einer neuen EU-Migrationskrise will auch sie im Zusammenhang mit Lampedusa nicht sprechen: "Die Situation sprengt auf jeden Fall nicht alles Dagewesene. Die Frage ist, ob Italien die Kapazitäten nicht hochfahren kann oder es nicht möchte."

Für die Bewohner ist es ein dauerhaftes Problem, dass nicht mehr Schiffe eingesetzt werden, um die die Menschen schnell von der Insel wegzubringen. Die Migrationsexpertin Rietig meint, man müsse keine Krise herbeireden. "Es ist keine akute Krise für die EU, sondern eben die bekannte Dauerkrise. Es ist aber eine Krise für die Betroffenen: also heute die Kommune in Lampedusa und in ein paar Wochen die Kommunen in Deutschland."

Knaus warnt vor Lage in der Ägäis

Wenn die Politik Migrationskrisen ausmacht, ist Migrationsexperte Gerald Knaus gefragt, weil er nach Lösungen sucht - und zu teils auch sehr umstrittenen kommt, wie dem EU-Türkei-Deal 2016. Knaus ist dieser Tage mit vielen Politikern im Gespräch; in Athen, Ankara und Berlin. Er hält die Situation auf Lampedusa für eine politische Krise, die man lösen müsse, damit das Vertrauen in die Politik nicht weiter abnehme und rechtsextreme Parteien nicht an Zulauf gewinnen: "Es ist eine Krise des politischen Systems."

Jedoch lenkt Knaus das Interesse der deutschen Politik weg von Italien: "Für Deutschland ist die Situation in der Ägäis viel wichtiger. Schon in der kommenden Woche sollte Deutschland mit Griechenland gemeinsam mit der Türkei verhandeln, bevor die Situation außer Kontrolle gerät." Er wirbt mit einem Konzept für einen neuen Deal mit der Türkei: Die Griechen seien bereit, selbst 20.000 bis 30.000 Syrer legal aufzunehmen.

Treffen am Rande der UN-Generalversammlung?

Am Rande der UN-Generalversammlung wollen sich der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan treffen. Denn auch in Griechenland steigt die Zahl der Menschen wieder, die sich von der Türkei aus auf den Weg in die EU machen. Bislang hatten die Griechen die Menschen einfach auf dem Meer ausgesetzt oder robust abgewiesen. Angeblich soll der neue griechische Migrationsminister Dimitrios Kairidis mit eben solchen Pushbacks etwas zurückhaltender umgehen, nachdem mehr als 500 Menschen im Juni vor der griechischen Küste ertrunken waren.

Insgesamt sind in diesem Jahr bereits 2375 Menschen im Mittelmeer ertrunken - unter ihnen auch das fünf Monate alte Baby, das bei der Rettung vor Lampedusa ins Wasser fiel. Das Mittelmeer bleibt nach den Zahlen des UNHCR auch weiterhin die tödlichste Migrationsroute der Welt.