uf diesem vom Pressebüro des ukrainischen Präsidenten zur Verfügung gestellten Foto umarmen sich ukrainische Kriegsgefangene nach einem Gefangenenaustausch. (Aufnahme: 03.01.2024)
reportage

Gefangenenaustausch "Mein Denys ist nicht dabei"

Stand: 05.01.2024 03:59 Uhr

Erstmals seit Monaten haben die Ukraine und Russland Gefangene ausgetauscht. Mehr als 4.000 Ukrainer sollen aber noch in russischer Hand sein. Die Angehörigen warten verzweifelt, Informationen sind rar.

Von Andrea Beer, ARD Kiew

Sie stehen in der Dunkelheit und singen die Nationalhymne: ein Teil der 225 Männer und fünf Frauen, die kurz zuvor ausgetauscht wurden. Viele haben die ukrainische Fahne um die Schulter gelegt. Dünn sind sie, mit sehr kurzen Haaren - und nicht alle singen inbrünstig mit. Einige stehen einfach nur da und schauen, als könnten sie es noch gar nicht glauben.

Der Austausch sei unter Vermittlung von Saudi-Arabien zustande gekommen, sagt Dmytro Lubinets, der Menschenrechtsbeauftragte des Parlaments im ukrainischen Fernsehen. Alle seien in einem schlechten körperlichen Zustand.

"Sie sind erschöpft und sehr dünn. Ich denke, man sieht dass sie viele Dutzend Kilo verloren haben. Moralisch sind sie stabil", sagt Lubinets.

Größter Gefangenenaustausch seit Kriegsbeginn

Es ist der erste Gefangenenaustausch mit Russland seit August vergangenen Jahres und der größte seit Beginn der Großinvasion Russlands vor fast zwei Jahren. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums konnten im Gegenzug fast 240 russische Kriegsgefangene zurück nach Russland. Moskau habe die Verhandlungen schwierig gemacht und blockiert, so Lubinets, der an den Verhandlungen beteiligt war.

"Einer wurde mehrmals zu einem angeblichen Austausch gebracht und musste dann wieder zurück. Die Ukraine hat dich aufgegeben, sagte man ihm. Dabei war es die russische Seite, die dem Austausch nicht zugestimmt hat. Ich nenne das physische und psychische Folter", sagt Lubinets.

"Immer wieder Verstöße gegen Genfer Konvention"

Nach Angaben von Lubinets sah keiner der Ausgetauschten während der Gefangenschaft Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) oder hatte Kontakt mit Angehörigen. "Immer wieder sehen wir diese Verstöße Russlands gegen die Genfer Konvention. Aber leider gibt es vom Internationalen Roten Kreuz keine Reaktionen darauf."

Diese Kritik ist nicht neu. In der Vergangenheit hat das IKRK jedoch mehrfach betont, es sei für einen Besuch bei ukrainischen Kriegsgefangenen in Russland bereit, müsse aber auch Zugang erhalten.

Hoffnung auf den nächsten Austausch

"Das Rote Kreuz oder die Vereinten Nationen können sie vergessen", winkt auch Olena Gangala ab. Ihr Sohn Denys geriet im März 2022 bei Mariupol in russische Kriegsgefangenschaft - seitdem hat seine Mutter nichts direkt von ihm gehört. Im September 2022 wurde Denys Gangala in einem Schauprozess wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt - vermutlich im russisch besetzen Donezk.

Olena Gangala und weitere Angehörigen kämpfen um jedes Fünkchen Hoffnung. Sie geht regelmäßig zum Koordinierungsstab in Kiew, um Informationen zu bekommen. Dieser besteht unter anderem aus Vertretern der Armee, des Geheimdienstes, sowie des Verteidigungsministeriums, und ist für ukrainische Kriegsgefangene zuständig.

"Wir organisieren Aktionen und Treffen. Wir sind laut und erinnern daran, dass wir existieren, dass sie existieren. Aber alles läuft schlecht." Olena Gangala freut sich für die anderen Familien, aber diese Tage sind für sie schwierig. "Mein Denys ist nicht dabei", sagt sie traurig.

Olena Gangala

Olena Gangala hofft weiterhin auf Informationen über ihren Sohn Denys - und seine Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft.

Selenskyj: "Trotz allem eine gute Nachricht"

Rund um Neujahr kamen durch russische Raketen und Drohnenangriffe in der Ukraine viele Menschen ums Leben oder wurden verletzt. Trotz aller Herausforderungen sei der Gefangenenaustausch eine gute Nachricht, so Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Vielerorts ist der ersehnte Austausch ein Thema. Ein Video der Grenztruppen zeigt, mit dramatischer Musik unterlegt, wie die Ausgetauschten aus Bussen steigen, Rucksäcke erhalten, etwas essen und Angehörige sowie Helfer umarmen.

Vom Koordinierungszentrum bekommen ausgetauschte Gefangene ein Set mit dem Notwendigsten, darunter Kleidung und Handys. Nicht immer wissen sie die Nummern ihrer Angehörigen noch.

Regal mit Handy, Hygieneartikel und ein paar Anziehsachen

Jeder ausgetauschte Gefangene bekommt ein Notset ausgehändigt - mit Hygieneartikeln, Kleidung und einem Handy.

Mehr als 4.000 Ukrainer in Gefangenschaft

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs vor fast zwei Jahren sind mehr als 2.800 Menschen aus der Gefangenschaft freigelassen worden. Dieses Mal waren es Angehörige von Armee, Nationalgarde, Polizei und Grenztruppen sowie sechs Zivilisten. Die Ausgetauschten werden von Ärzten untersucht und sollen unterstützt werden, etwa bei Reha-Maßnahmen.

Mehr als 4.000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind noch in russischer Hand. Das lässt sich Angaben einer Sonderkommission des Ministeriums für Reintegration aus dem Oktober 2023 entnehmen.

Offiziell gelten etwa 26.000 Menschen als vermisst: 15.000 Armeeangehörige und 11.000 Zivilisten stehen im entsprechenden Register des ukrainischen Innenministeriums. Präsident Selenksyj versprach, alles zu tun, um sie zurückzuholen.

Auch Asowstal-Verteidiger frei

Die 230 Menschen, die nun freikamen, gerieten unter anderem durch die russische Besatzung des Atomkraftwerks Tschernobyl in Gefangenschaft, sowie beim Kampf um die Schlangeninsel, um die Hafenstadt Mariupol und das dortige Asowstalwerk.

Auch die Armeemedizinerin Halina Fedyschyn wurde ausgetauscht und hat inzwischen einen Heiratsantrag von ihrem Verlobten Mykola erhalten, der ebenfalls Soldat ist. Sein Kommandeur veröffentlichte das Ja-Wort auf Facebook - mitsamt Blumen, Umarmung und Kuss. Nur eine von vielen Geschichten, die nun die Runde machen.

"Ich spreche darüber, dann ist es leichter"

Olena Gangala bleibt indes nicht viel mehr übrig, als weiter zu hoffen, dass ihr Sohn Denys beim nächsten Austausch dabei ist. Ihr Mann lebt im russisch besetzten Luhansk im Osten des Landes.

Da sie es allein nicht schafft, sucht sie Hilfe bei Psychologen. "Es hilft mir zu reden und es ist mir egal, mit wem ich spreche - auch mit Fremden. Ich fahre mit dem Taxi, ich spreche darüber. Ich fahre mit dem Bus - ich spreche darüber, dann ist es leichter", sagt Gangala.

Andrea Beer, ARD Kiew, tagesschau, 04.01.2024 18:57 Uhr