Von der Leyen in Kiew Selenskyj fordert Beitrittsverhandlungen
Beim Besuch von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen in Kiew hat Präsident Selenskyj die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen seines Landes gefordert. Zugleich kritisierte er "protektionistische" Exportbeschränkungen Brüssels.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die EU erneut dazu aufgefordert, die Aufnahme von Verhandlungen über den Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union zu beschließen.
Es sei "längst an der Zeit", "eine positive Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu treffen", sagte Selenskyj auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Von der Leyen: Ukraine "Teil unserer europäischen Familie"
Vor dem Hintergrund erneuter russischer Raketenangriffe hatte von der Leyen am Europatag die ukrainische Hauptstadt Kiew besucht. Dabei zollte sie der Ukraine tiefen Respekt für deren Bemühungen um einen schnellen EU-Beitritt. Das Land arbeite "unermüdlich und intensiv" daran, die Voraussetzungen für den Start von Beitrittsverhandlungen zu erfüllen - trotz der Schwierigkeiten, Reformen in einem blutigen Krieg durchzuführen.
Eine erste Bewertung der aktuellen Reformanstrengungen der Ukraine wird die EU-Kommission nach den Angaben von der Leyens bereits im Juni mündlich an den Rat der Mitgliedstaaten übermitteln. Im Oktober soll es dann einen schriftlichen Bericht geben, auf Grundlage dessen dann eine Entscheidung über den Start von Beitrittsverhandlungen getroffen werden soll.
Die Ukraine ist seit vergangenem Sommer bereits Beitrittskandidat. Über Verhandlungen müssen die 27 EU-Staaten einstimmig entscheiden.
Zwei Stunden Luftalarm vor Besuch
Von der Leyen begrüßte auch "nachdrücklich die Entscheidung von Präsident Selenskyj, den 9. Mai zum Europatag zu machen". Ihr Besuch in Kiew sei "auch ein Zeichen für eine entscheidende und sehr praktische Realität: Die EU arbeitet in vielen Fragen mit der Ukraine Hand in Hand".
Es war von der Leyens fünfter Besuch in der ukrainischen Hauptstadt seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine. Er fand aufgrund der verstärkten russischen Raketenangriffe unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen statt. Vor von der Leyens Ankunft hatte es in der ukrainischen Hauptstadt zwei Stunden lang Luftalarm gegeben.
Ukraine feiert fortan Europatag
Kommissionssprecher Eric Mamers hatte vor von der Leyens Besuch erklärt, das Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten werde sich "auf alle Dimensionen unserer Beziehungen mit der Ukraine konzentrieren". Die EU hatte die Ukraine im Juni 2022, vier Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges, zur EU-Beitrittskandidatin erklärt.
Der Europatag erinnert an die Unterzeichnung der sogenannten Schuman-Erklärung im Mai 1950. Sie gilt als erster Schritt hin zur Europäischen Union. Selenskyj hatte angekündigt, am 9. Mai von nun an den Europatag zu feiern statt wie bisher den Tag des Siegs über Nazi-Deutschland.
Damit grenzt sich der ukrainische Staatschef weiter von Russland ab. Moskau erinnert alljährlich am 9. Mai an den Sieg über Nazi-Deutschland, insbesondere mit einer Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau.
Von der Leyen nennt Details zu neuen Russland-Sanktionen
Bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Selenskyj erläuterte von der Leyen die jüngsten Vorschläge ihrer Behörde für ein elftes Paket mit Russland-Sanktionen. Der Schwerpunkt des Pakets liege darin, die Umgehung der bereits erlassenen Strafmaßnahmen zu bekämpfen.
Demnach soll zum Beispiel über eine Verschärfung bestehender Transit-Verbote dafür gesorgt werden, dass bestimmte Hightech-Produkte oder Flugzeugteile nicht mehr über Drittstaaten nach Russland kommen.
Zudem bestätigte von der Leyen den bereits am Freitag bekannt gewordenen Vorschlag für ein neues Instrument zum Kampf gegen Sanktionsumgehungen. "Wenn wir sehen, dass Waren von der Europäischen Union in Drittländer gelangen und dann in Russland landen, könnten wir den Mitgliedstaaten vorschlagen, diese Waren zu sanktionieren", sagte die frühere deutsche Verteidigungsministerin.
Über den Vorschlag der Kommission sollen an diesem Mittwoch erstmals die ständigen Vertreter der 27 EU-Mitgliedstaaten in Brüssel beraten. Ziel ist es, das elfte Sanktionspaket noch in diesem Monat zu beschließen.
Selenskyj fordert schnellere EU-Waffenlieferungen
Angesichts der geplanten ukrainischen Gegenoffensive gegen die russischen Invasoren forderte Selenskyj die EU auch zu schnelleren Waffenlieferungen auf.
Er habe mit von der Leyen "das Schlüsselthema besprochen: die Geschwindigkeit der Versorgung und Lieferung" von Munition. Die von der EU zugesagte Artilleriemunition von "einer Million Granaten" werde unmittelbar auf dem Schlachtfeld benötigt.
Die Ukraine bereitet derzeit eine Gegenoffensive gegen die russischen Invasionstruppen vor, die nun offenbar kurz bevorsteht oder möglicherweise bereits läuft. Zuletzt hatte es eine Häufung mutmaßlicher Drohnenangriffe und Sabotageakte in Russland gegeben, für die Moskau Kiew verantwortlich macht.
Selenskyj spricht von "grausamen" Export-Beschränkungen
Selenskyj prangerte auch "protektionistische", "inakzeptable" und "grausame" europäische Beschränkungen für ukrainische Getreideexporte an. "Jede Beschränkung unserer Exporte ist jetzt absolut inakzeptabel, weil sie die Kapazitäten des russischen Aggressors stärkt", sagte Selenskyj. Er forderte Brüssel auf, die Beschränkungen "so schnell wie möglich" aufzuheben. Bei den Gesprächen mit von der Leyen habe er den politischen Willen zur Beseitigung dieser Probleme gespürt.
Polen, Ungarn, die Slowakei und Bulgarien hatten Mitte April die Einfuhr von Getreide und anderen Agrarprodukten aus der Ukraine untersagt. Sie begründeten den Schritt mit dem Schutz ihrer heimischen Produzenten. Von der Leyen hatte daraufhin Ende April ein zusätzliches millionenschweres Hilfspaket für osteuropäische Bauern zugesagt.
Hintergrund sind deren Klagen über einen Preisverfall. Infolge des russischen Angriffskriegs kann die Ukraine weniger landwirtschaftliche Produkte auf dem Seeweg etwa nach Afrika exportieren, sondern nutzt den Landweg durch die EU. In Nachbarländern wie Polen und Ungarn sorgt dies für volle Silos und deutlich sinkende Erzeugerpreise.