Arzneimittelengpässe Lauterbachs Rezept gegen den Mangel
Apotheker, die leere Medikamentenschubladen aufziehen - das war in letzter Zeit immer wieder Alltag. Gesundheitsminister Lauterbach plant, das zu ändern. Wie schlimm ist der Mangel und wie soll es besser werden?
Die Ausgangslage
Eltern, die panisch versuchen, Fiebersaft für ihre kranken Kinder zu besorgen: Es waren solche Zustände, die im Dezember Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach unter Druck setzten. Es folgte ein hektisch verfasstes Eckpunktepapier zu Arzneimittelengpässen. Der Minister hat seine Pläne mit einem Gesetzentwurf konkretisiert. Heute hat das Bundeskabinett dem Entwurf zugestimmt.
Wie umfassend ist der Arzneimittelmangel?
Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gibt es aktuell bei 467 Medikamenten Lieferengpässe. Die Zahl der Engpässe ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Betroffen sind unter anderem Arzneimittel zur Behandlung von Krebserkrankungen und Antibiotika, aber auch Asthma- sowie Cortison-Präparate. Der Interessenverband Pro Generika nennt auch Herz-Kreislauf-Medikamente, Schmerzmittel und Antidepressiva, die immer wieder knapp würden.
Die Situation bei Fiebersäften für Kinder hat sich laut Bundesgesundheitsministerium "moderat entspannt". Zudem verweist das Ministerium darauf, dass die betroffenen Arzneimittel sich zum großen Teil ersetzen lassen würden, sodass die Versorgung der Patientinnen und Patienten nicht gefährdet sei. Für die Apotheken ist das aber mit einem großen Aufwand verbunden. Und die Ersatzpräparate sind nicht immer die Mittel, auf die die Patienten eingestellt sind und die sie am besten vertragen.
Was sind Ursachen für die Lieferengpässe?
Die Ursachen sind vielfältig. Dazu gehört ein starker Kostendruck bei der Herstellung patentfreier Arzneimittel, der zu einer weitgehenden Verlagerung der Produktion nach China und Indien geführt hat. Die Konzentration auf wenige Produktionsorte und mögliche Qualitätsprobleme bei der Produktion führen zu weitergehenden Lieferunsicherheiten. Plötzliche starke Nachfragesteigerungen können das Problem akut verschärfen. Zum Beispiel, als Kinder vergangenen Winter reihenweise mit Infekten zu kämpfen hatten und Fiebersäfte knapp wurden.
Der starke Kostendruck auf Hersteller von patentfreien Arzneimitteln, sogenannte Generika, ist hausgemacht. Denn im Gesundheitssystem wurden Instrumente verankert, um die Ausgaben der Krankenkassen für Medikamente zu begrenzen. Zum Beispiel durch Festbeträge. Das sind Höchstbeträge, die für die Erstattung von bestimmten Arzneimitteln festgelegt werden. Dieses Instrument wurde 1989 unter Federführung des damaligen Bundesarbeits- und Sozialministers Norbert Blüm (CDU) mit dem Gesundheits-Reformgesetz eingeführt.
Seit 2003 können Krankenkassen zudem Rabattvereinbarungen über Arzneimittel mit Pharmaunternehmen abschließen. Es erhalten also die Anbieter den Zuschlag, die den günstigsten Preis bieten. Geregelt wurde das im Beitragssatzsicherungsgesetz, das von der damaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) eingeführt wurde. Seit 2007 sind Apotheker zudem verpflichtet, gegen ein eingereichtes Rezept genau das wirkstoffgleiche Präparat herauszugeben, für das die Krankenkasse des Patienten einen Rabattvertrag abgeschlossen hat. Die Einsparungen für das Gesundheitssystem belaufen sich auf mehrere Milliarden Euro pro Jahr.
Was steht im Gesetzentwurf?
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will den Kostendruck bei der Produktion von bestimmten patentfreien Medikamenten, nämlich bei Antibiotika, verringern. Lauterbachs Ziel ist, die Wirkstoffproduktion in der EU zu stärken. Deshalb sollen künftig Krankenkassen Firmen mit Wirkstoffproduktion in der EU bei Ausschreibungen stärker berücksichtigen. Ergänzend zur Vergabe nach dem günstigsten Preis sollen sie einen Zuschlag nach dem Kriterium Wirkstoffproduktion in der EU vergeben. In einem vorhergehenden Entwurf waren auch Krebsmedikamente vorgesehen, die in der neuen Fassung nun offenbar gestrichen wurden.
Für Arzneimittel für Kinder soll es zudem künftig keine Festbeträge und keine Rabattverträge mehr geben. Für patentfreie, rabattierte Arzneimittel soll generell eine mehrmonatige Lagerhaltung verbindlich werden. Für patentgeschützte Arzneimittel soll es zusätzliche finanzielle Anreize geben, um die Entwicklung von Reserveantibiotika zu fördern. Konkret sollen für anerkannte Reserveantibiotika mit neuen Wirkstoffen die höheren Preise bei Markteinführung länger gelten.
Für Apotheken will Lauterbach die Möglichkeiten zum Arzneimittelaustausch erweitern. Sie sollen künftig alle rezeptpflichtigen Medikamente, die nicht innerhalb einer angemessenen Zeit lieferbar sind, gegen ein verfügbares, wirkstoffgleiches Präparat austauschen dürfen. Und um zukünftig frühzeitig Lieferengpässe zu erkennen, soll das BfArM ein Frühwarnsystem einrichten, das drohende versorgungsrelevante Lieferengpässe bei Arzneimitteln identifiziert.
Wie erfolgversprechend sind die geplanten Maßnahmen?
Experten sind sich weitgehend einig, dass Handlungsbedarf besteht und die Maßnahmen zumindest ein Anfang sind. Den Kostendruck auf Generika, also Nachahmerpräparate von nicht mehr patentgeschützten Medikamenten zu senken, sei auf jeden Fall eine gute Idee, sagt die Pharmaexpertin Jasmina Kirchhoff vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Sie spricht von einem "ruinösen Preiskampf bei generischen Arzneimitteln". Ein Umdenken sei hier schon lange überfällig.
Dass es bei einigen Rabattverträgen nun nicht mehr nur um den geringsten Preis gehen solle, sondern auch die im Standortvergleich teureren europäischen Produktionen zum Zug kommen sollen und bei Kinderarzneimitteln Festbetragsgruppen aufgelöst und Rabattverträge abgeschafft werden, sei ein erster Schritt in die richtige Richtung, sagt Kirchhoff.
Eine schnelle Verbesserung der Situation und eine zeitnahe Rückverlagerung der Produktion in die EU, ist dadurch aber wohl nicht zu erwarten. "Wir werden das bei weitem nicht schaffen, für jedes Arzneimittel einen europäischen Hersteller zu finden", sagt die Pharmazie-Professorin Ulrike Holzgrabe. Die Entwicklung, alles in China zu kaufen, laufe seit Jahren. Das lasse sich auch "nicht so ad hoc zurückdrehen". Die Professorin rechnet mit einem Zeithorizont von mindestens zehn Jahren, um die Rückverlagerung in Gang zu setzen.
Auch Arzneiexperte Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber der unabhängigen Fachzeitschrift "Arznei-Telegramm", ist skeptisch. Die Produktion in Europa sei in großen Bereichen eingedampft worden. Eine Rückverlagerung gehe nicht kurzfristig.
Fragezeichen hinterlässt auch die teils vage Formulierung im Gesetzentwurf. So ist beispielsweise davon die Rede, dass die Rabattverträge von den Krankenkassen so ausgeschrieben werden sollen, dass auch Hersteller berücksichtigt werden "sollen", die den entsprechenden Wirkstoff in Europa produzieren. Von "müssen" stehe da nichts, kritisiert Becker-Brüser. Das sei im Prinzip nur eine Willenserklärung und keine Handlungsanweisung.
Wo greift der Gesetzentwurf zu kurz?
Ein wesentlicher Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass Lauterbach sich bei der Diversifizierung der Lieferketten auf nur eine Arzneimittelgruppe fokussiert: Antibiotika. In einem vorhergehenden Entwurf waren auch Arzneien gegen Krebs enthalten. Aus Sicht von Bork Bretthauer vom Verband Pro Generika ist diese Fokussierung nicht nachvollziehbar. Dieses Gesetz werde das Engpass-Problem nicht lösen, sagt Bretthauer.
Ähnlich sieht das Arzneiexperte Becker-Brüser. Es handele sich um ein grundlegendes Problem. Zum Beispiel auch bei Schmerzmitteln, Blutdrucksenkern und vielen anderen Arzneimitteln. Um die Situation wirklich grundlegend zu verbessern, wäre es nötig, dass zumindest wesentliche Arzneimittel wieder in Europa produziert würden, sagt Becker-Brüser.
Auch Pharmaexpertin Kirchhoff kritisiert, den Spardruck nur für einzelne Bereiche zu lockern, werde nicht genügen, um das grundlegende Problem in der Versorgung zu lösen. Zudem reicht aus ihrer Sicht die Stärkung des Produktionsstandorts Europa nicht aus. Es müssten auch Hersteller belohnt werden, die ihre Lieferketten breit genug aufstellen, also in zusätzliche Zulieferer oder Produktionsstandorte investieren, um Liefersicherheit garantieren zu können. Dafür sei es aus ökonomischer Sicht weniger relevant, wo die Zulieferer und Produktionsstandorte seien, sondern wie viele und wie gut verteilt diese auf dem globalen Markt seien.
Wer soll die steigenden Kosten für Arzneimittel tragen?
Arzneimittel machen nach Krankenhausbehandlungen und ärztlichen Behandlungen einen wesentlichen Ausgabenposten der Krankenkassen aus. Die Kosten steigen seit Jahren an, zuletzt auf knapp 49 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Doch nur ein kleiner Teil davon entfällt auf Generika, während der Verordnungsanteil von Generika am gesamten Arzneimittelmarkt bei etwa 80 Prozent liegt.
Die "relevanten Kostentreiber" seien also die patentgeschützten Arzneimittel, sagt Arzneiexperte Becker-Brüser. Die Politik tut sich allerdings schwer, hier regulierend einzugreifen. Schnell kommt dann das Argument, dass Firmen sich ansonsten aus der Forschung an neuen Arzneimitteln in Deutschland zurückziehen könnten.
Einen Hebel sieht Becker-Brüser aber doch: Er empfiehlt, die Unternehmen zum Beispiel zu verpflichten, dass sie die tatsächlich entstandenen Kosten für Forschung und Entwicklung nachvollziehbar deklarieren und transparent machen müssen. Transparenz sei eine wichtige Voraussetzung für seriöse und nachvollziehbare Preise. In jedem Fall müsste man aber auch für die Rückverlagerung der Generika-Herstellung viel Geld in die Hand nehmen. Da gehe es um Kosten im Bereich vieler Milliarden Euro, sagt Becker-Brüser.
Wohl auch deshalb sehen die Krankenkassen, die das Geld der Beitragszahler beisammen halten wollen, die Pläne Lauterbachs kritisch. Stefanie Stoff-Ahnis vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) spricht in Bezug auf Rabattverträge und Festbeträge von bewährten Instrumenten, die die Beitragszahler jedes Jahr vor zusätzlichen Kosten in Milliardenhöhe schützen würden. Wenn diese Mechanismen einfach ausgehebelt werden, würden die Portemonnaies der Beitragszahler zusätzlich belastet.
Pharmaexpertin Kirchhoff plädiert dafür, grundsätzlich zu überlegen, wie man das Gesundheitssystem zukunftssicher aufstellen könne. Jedes Jahr zu schauen, wie man das finanzielle Loch in der gesetzlichen Krankenversicherung notdürftig stopfe, das sei keine Strategie.