Wladimir Putin
interview

Leiter des Ukraine-Krisenstabs "Putin versteht nur Sprache der Stärke"

Stand: 15.11.2024 19:15 Uhr

Wie steht es um die Verhandlungsbereitschaft des russischen Präsidenten? Der Leiter des Ukraine-Krisenstabs im Verteidigungsministerium, General Freudig, zeigt sich im Interview skeptisch.

tagesschau.de: Die bislang regierende Ampelkoalition gibt es nicht mehr, im Dezember wird der Bundestag aufgelöst, Ende Februar neu gewählt. Ist Ihr Ukraine-Krisenstab und sind Sie selbst angesichts dieser Turbulenzen in Deutschland überhaupt weiter arbeitsfähig?

Christian Freuding: Absolut. Wir haben einen verabschiedeten Bundeshaushalt für das Jahr 2024. Wir wissen, welche Projekte wir in diesem Jahr noch umsetzen wollen. Wir haben einen sehr ehrgeizigen Plan, den wir nahezu täglich auch mit den Ukrainern besprechen und abstimmen, was wir noch tun können, wo wir noch mal nachlegen können.

Also, die Unterstützung, das wissen die Ukrainer auch, läuft, und sie können sich auf Deutschland verlassen. Ich spüre auch im Parlament eine sehr übergreifende Unterstützung für unsere Arbeit. Und wir werden die mit unveränderter Geschwindigkeit weiterführen.

Christian Freuding

Generalmajor Christian Freuding ist Leiter des Ukraine-Sonderstabs im Verteidigungsministerium, Chefkoordinator für die militärischen Ukraine-Hilfen und damit einer der engsten Berater von Verteidigungsminister Boris Pistorius. Er reist regelmäßig in die Ukraine und ist ein Kenner der militärischen Lage.

"Bis auf Weiteres handlungsfähig"

tagesschau.de: Aber die Vermutung liegt ja nahe, dass in den nächsten Wochen und vielleicht auch Monaten angesichts der Neuwahlen ganz große, wegweisende Entscheidungen über neue Ukraine-Hilfen eher nicht zu erwarten sind.

Freuding: Ich glaube, wir sind bei der Ukraine-Unterstützung mittlerweile in einer so großen Kontinuität, dass weder eine mögliche Auflösung des Bundestages noch ein nicht verabschiedeter Bundeshaushalt 2025 da irgendetwas für die Ukrainer spürbar werden lassen.

Wir werden auch am 1. Januar 2025 LKW in Richtung Polen rollen sehen. Wir werden im ersten Quartal Feuereinheiten für Luftverteidigung an die Ukraine übergeben können. Wir sind bis auf Weiteres handlungsfähig.

"Die Ukraine weiter mit aller Kraft unterstützen"

tagesschau.de: Schauen wir auf die Lage in der Ukraine selbst: Russland setzt kurz vor dem Winter nicht nur seine Luftangriffe gegen die Zivilbevölkerung und auch die gezielte Zerstörung der Energieinfrastruktur in der Ukraine weiter fort. Auch rückt die russische Armee am Boden und vor allem im Osten des Landes, im Donbass, beständig vor. Wie bedrohlich ist die Lage für die Ukraine fast 1.000 Tage nach dem russischen Einmarsch?

Freuding: 1.000 Tage Krieg bedeuten: Tote, Bombardierung der Städte, unablässige Luftangriffe auf die Ukraine. Und in der Tat ist es im Moment so, dass die militärische Lage aus Sicht der Ukraine angespannt ist.

Sie haben es angesprochen: Russland ist im Prinzip an allen Frontabschnitten in der Initiative und kommt auch bei Gebietsgewinnen voran. Schneller, als wir das vor dem Sommer gesehen haben und insbesondere im Bereich Donbass.

tagesschau.de: Aber wenn die Ukraine vielerorts gleichzeitig unter Druck gerät und die Lage so brenzlig ist - wäre dann nicht der logische Schluss, dass der Westen, dass auch wir Deutsche die Ukraine eigentlich noch viel mehr unterstützen müssten, auch mit Waffen?

Freuding: Da haben Sie Recht. Wir müssen die Ukraine weiter mit aller Kraft unterstützen. Nach 1.000 Tagen, nach fast drei Jahren Krieg ist für uns alle klar, dass Putin, dass Russland nur die Sprache der Stärke versteht. Wir müssen alles daran setzen, die Ukraine in eine Position der Stärke zu versetzen. Aber wir sind darüber auch im ständigen Austausch mit unseren Partnern und wir sind auch bereit, diese Anstrengungen zu unternehmen.

"Kein Waffensystem ist der Gamechanger"

tagesschau.de: Was braucht denn die Ukraine aus Ihrer Sicht am dringendsten? Diese Debatte, auch über "Taurus"-Marschflugkörper zum Beispiel, flammt aktuell wieder auf.

Freuding: Am dringendsten brauchen sie Luftverteidigung, Luftverteidigung, Luftverteidigung. Das ist jetzt keine neue Erkenntnis. Gilt aber insbesondere, wenn Sie die Bedrohung der Energieinfrastruktur sehen, die Fähigkeit der russischen Streitkräfte, auf die Höchstleistungsnetze gezielt zu wirken und diese zu zerstören.

tagesschau.de: Und wäre der "Taurus" da auch sinnvoll?

Freuding: Ich glaube, zu dem Thema ist in Deutschland alles gesagt worden. Jedes Waffensystem ist sinnvoll und kein Waffensystem ist der Gamechanger.

"Russland stockt seine Munitionsvorräte auf"

tagesschau.de: Russland hat komplett auf Kriegswirtschaft umgestellt. Wird Moskau irgendwann personell oder materiell an seine Grenzen stoßen?

Freuding: Das Umstellen auf Kriegswirtschaft, das lag ja außerhalb unserer Vorstellungswelt. Wir sehen mittlerweile deutlich klarer und mit diesem klaren Blick müssen wir erkennen, dass Russland in der Lage ist, seine Streitkräfte aufwachsen zu lassen. Wir erwarten, dass die russischen Streitkräfte in den nächsten Jahren einen Umfang von bis zu 1,5 Millionen Soldaten erreichen werden.

Wir sehen, wie der Bestand an Gefechtsfahrzeugen anwächst. Russland stockt seine Munitionsvorräte auf. Es gibt Meldungen darüber, dass Russland mehr in drei Monaten an militärischem Material produzieren kann, als alle europäischen Staaten in einem Jahr. Und deswegen müssen wir damit rechnen, dass die russischen Streitkräfte auch längerfristig auf dem Niveau bei der Intensität der Kriegsführung durchhaltefähig sind.

"Es geht darum, den Westen zurückzuwerfen"

tagesschau.de: Wie bedrohlich ist dann also Russland in ein paar Jahren für die NATO und auch für uns in Deutschland?

Freuding: Russland ist für die NATO und für Deutschland auf absehbare Zeit die größte Bedrohung. Es geht Russland in einem Systemkonflikt um Geltungs- und Gestaltungsanspruch.

Es geht darum, den Westen und all das, für das wir stehen, für eine freiheitliche Ordnung, zurückzuwerfen, die Demokratie und die Kohäsion in den westlichen Gesellschaften zu unterminieren. Russland verbindet einen imperialistischen Anspruch mit einer nach innen autokratischen Organisation des Staates. Und das macht die große Bedrohung für uns hier im Westen aus.

"Strategisch werden die USA andere Schwerpunkte wählen"

tagesschau.de: Dann drängt sich natürlich sofort die Frage auf: Wie gut sind wir darauf vorbereitet? Russland hat dazu noch wichtige Verbündete mit Nordkorea, China und Iran. Und dann müssen wir zusätzlich noch befürchten, dass die USA einen Teil ihres Schutzschirms möglicherweise wegziehen oder dass der künftige US-Präsident Donald Trump die NATO beschädigt.

Freuding: Es ist ja für uns keine Überraschung, dass sich eine neue amerikanische Administration stärker in Richtung China und Indo-Pazifik ausrichten wird. Das hatten wir zum Beispiel auch schon unter der Obama-Administration.

Strategisch werden die Vereinigten Staaten andere Schwerpunkte wählen und damit geht natürlich klar die Erwartung an uns Europäer einher, mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit und Verteidigung zu übernehmen. Das ist kein neuer Trend. Er wird sicherlich in gewissem Maße an Schärfe gewinnen. Aber wir tun ja auch einiges in den letzten Jahren.

"Wir haben einiges eingeleitet"

tagesschau.de: Wir geben auch in Deutschland jetzt zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigung aus. Aber dauerhaft gesichert ist die Finanzierung nicht. Und eine militärische Führungsrolle in Europa wünschen sich zwei Drittel der Deutschen einer aktuellen Umfrage der Körber Stiftung zufolge auch nicht. Ist die "Zeitenwende" in den Köpfen der Menschen schon ausreichend angekommen?

Freuding: Ich habe diese Umfrage auch gelesen, aber wir könnten jetzt auch andere Umfragen zitieren, die deutlich den Trend aufzeigen, dass unsere Bevölkerung sehr weit ist in dem Willen, dass wir funktionsfähige, einsatzbereite, kriegstüchtige Streitkräfte haben. Und wir haben einiges eingeleitet, um schnell in einer neuen Legislaturperiode in einen neuen Wehrdienst zu kommen, um auch unsere Durchhaltefähigkeit zu verbessern, um unsere Aufwuchsfähigkeit zu verbessern.

tagesschau.de: Der neue Wehrdienst - Stichwort: Personalprobleme - ist zwar durchs Kabinett, aber eben noch nicht vom Bundestag beschlossen.

Freuding: Ich bin sehr zuversichtlich. Wir arbeiten da auch mit Vollgas weiter. Alles, was wir unterhalb der Gesetzesschwelle an eigenen Organisationsmaßnahmen machen können, läuft mit Hochdruck weiter, sodass wir dann sofort von der Rampe starten können, sobald die neue Bundesregierung gebildet ist.

Ich sehe für das Vorhaben auch einen breiten Konsens, sodass wir davon ausgehen können, dass er auch bei einer neu zusammengesetzten oder anders zusammengesetzten Bundesregierung die entsprechende Unterstützung findet.

"Keinerlei Verhandlungsbereitschaft auf russischer Seite"

tagesschau.de: Um nach fast 1.000 Tagen Vollinvasion Russlands in der Ukraine noch einmal auf unsere Ausgangsfragen zu kommen: Sehen Sie, dass Putin seine Kriegsziele verändert hat? Sehen Sie in irgendeiner Form Verhandlungswillen in Moskau? Und sehen Sie, dass ein Ende dieses Krieges überhaupt absehbar wäre?

Freuding: Wir können nicht erkennen, dass Russland seine Kriegsziele verändert hat. Putin macht ja immer wieder deutlich, dass er verhandlungsbereit ist. Aber für ihn steht auch grundsätzlich fest, dass die vier - aus russischer Sicht - bereits in das Staatsgebiet integrierten Oblaste Teil Russlands sein müssten und bleiben müssten. Und dass es mindestens ein Moratorium mit Blick auf die Bündnisse bei der Ukraine geben müsste.

Das ist alles andere als Verhandlungsbereitschaft. Man sieht sehr deutlich, wo Russlands Kriegsziele liegen, nämlich am Ende in der Zerschlagung einer freien demokratischen Ukraine. Zumindest auf russischer Seite kann ich keinerlei Verhandlungsbereitschaft derzeit erkennen.

tagesschau.de: Das heißt, Frieden innerhalb von 24 Stunden zu schaffen, wie es der kommende US-Präsident Trump angekündigt hat, wird schwierig.

Freuding: Das wird sehr anspruchsvoll. Jeder, der sich über längere Zeit mit diesem Krieg auseinandersetzt, wünscht sich nichts sehnlicher, als dass Frieden herrscht. Es muss aber auch ein Frieden sein, der dieses Wort verdient. Und es muss ein Frieden in Freiheit sein für die Ukraine. Um das zu erreichen, müssen wir all unsere Anstrengungen unternehmen.

Das Gespräch führte NDR-Sicherheits- und Verteidigungsexperte Kai Küstner. In voller Länge ist es im NDR-Info-Podcast "Streitkräfte und Strategien" zu hören.