Patriotismus-Unterricht in Russland "Jedes Thema wird für Propaganda genutzt"
Tatjana ist Lehrerin in Russland. Ein Beruf, den sie immer mit Leidenschaft ausgeübt hat - bis ihr gekündigt wurde. Der Grund: Sie hatte offenbar ihre Meinung zu laut kundgetan.
Die große, weiße Plastiktafel nimmt fast die ganze Wand ein in der Wohnküche. Sie ist über und über beschrieben mit geometrischen Formen, mathematischen Gleichungen, Zahlenreihen. Davor steht Tatjana, mehrfach preisgekrönte Mathelehrerin, und bereitet ihre nächste Online-Nachhilfestunde vor.
Tatjana lebt von Nachhilfe. An ihrer Schule darf sie nicht mehr unterrichten - Ende letzten Jahres hat sie ihren Job verloren. Formal, weil sie bei der Benotung die Fristen nicht eingehalten habe.
Aber in Wahrheit, sagt sie, wolle man sie in der Schule nicht mehr. Sie hat an einer Antikriegsdemo teilgenommen, hat sich nicht an den offiziellen Lehrplan gehalten, und vor allem: Sie hat das sogenannte "Gespräch über das Wichtige" auf ihre Art ausgelegt.
Vermeidung des Wortes 'Krieg'
Seit vergangenem Jahr müssen Klassenlehrer mit ihren Schülern immer montags eine Stunde "Über das Wichtige" sprechen, wobei die Themen vorgegeben sind. Tatjana hielt sich nicht an die Vorgaben.
"Jedes Thema wird für Propaganda genutzt. Nehmen wir das Thema 'Musik': Man soll über Schostakowitsch reden und seine fünfte Sinfonie, die er während der Blockade von Leningrad geschrieben hat. Dann soll man kurz den Zweiten Weltkrieg ansprechen und von dort den Bogen schlagen zu den Ereignissen in der Ukraine, wo unsere Soldaten angeblich wie damals die Heimat verteidigen".
Das Wort "Krieg" vermeidet Tatjana, sicherheitshalber. Mit ihrer achten Klasse, einer Klasse mit Schwerpunkt Mathematik, hat sie die Montagsstunden anders genutzt:
"Ich habe den Eltern damals gesagt, wir werden jetzt eine neue Unterrichtsstunde haben, 'Gespräche über das Wichtige'. Ich finde, es gibt kaum Wichtigeres als Mathematik. Sie zu beherrschen, ist patriotisch, es hilft dem Land. Wir werden montags Mathe vertiefen."
Erst Rüge, dann Kündigung
Niemand habe etwas dagegen gehabt. Nach der dritten Stunde gab es eine Rüge von der Schulleitung, Tatjana solle sich an die Regeln halten. Also wählte sie für den nächsten Montag das Thema "Heldentum". Vorgegeben seien als Beispiele vor allem Militärs, Menschen, die irgendwo gekämpft hätten, sagt sie. Tatjana definiert Heldentum anders.
"Ich wollte mit meiner Klasse über Heldentum im Alltag sprechen, habe Geschichten über zivile Helden gesucht. Damit die Kinder verstehen, dass jeder in seinem Umfeld ein Held sein kann. Wie der Arzt, der einem Kind das Leben rettet, zum Beispiel."
Sie bekam noch mehr Ärger. Erst recht, als sie einem in Russland zum "ausländischen Agenten" erklärten Sender ein Interview gab und dort ihre Meinung zum neuen Unterrichtsfach äußerte. Jemand schrieb eine Beschwerde an die Schule, ans Ministerium, dann an Putins Ombudsfrau für Kinderrechte.
Es folgte die Kündigung - gegen die sie bis heute klagt. An ihrer Schule, sagt Tatjana, habe es nur versteckte Solidaritätsbekundungen gegeben. Alle hätten Angst gehabt, sich mit ihr auch nur zu zeigen - und vielleicht selbst den Job zu verlieren.
Zum Schulbeginn am ersten September wird für die elften Klassen landesweit ein neues Geschichtslehrbuch eingeführt. Dargestellt wird die offizielle Sicht auf die Zeit zwischen 1945 und heute, auch auf die sogenannte Militärische Spezialoperation.
Geschichtsunterricht wird vereinheitlicht
"In einem der Korridore im Schulgebäude, wo keine Kameras hängen, hat mich einmal eine Kollegin umarmt und gesagt 'Es ist gut, was Sie machen' - und dann ist sie schnell weggelaufen. Eine andere hat mir im leeren Klassenzimmer gesagt: 'Wir sind alle für dich'. Aber offen sagt es niemand."
Tatjana weiß, dass sie nicht allein ist. Sie höre von vielen Lehrerinnen und Lehrern anderer Schulen, die Probleme hätten, die selbst am liebsten kündigen wollten - und nur deshalb blieben, weil sie ihre Klasse zumindest bis zum Schulabschluss führen wollten.
Erst vor wenigen Tagen sollen in der Stadt Perm im Ural gleich 10 Lehreinnen gekündigt haben, weil sie die neuen Lehrinhalte nicht unterrichten wollen. Ab diesem Schuljahr wird auch der Geschichtsunterricht vereinheitlicht - mit einem neuen Schulbuch, geschrieben auf Geheiß Putins.
Überall im Land wird für den Kriegsdienst geworben. "Es gibt einen Beruf: das Heimatland verteidigen", steht auf einem der riesigen Plakate.
Umstieg auf Home-Schooling
Tatjana wohnt in einer Vorstadt von Moskau, im 12. Stock eines der gigantischen Wohnblöcke, die man hier "Ameisenhügel" nennt. Wie überall im Land wird auch hier für den Kriegsdienst geworben. "Es gibt einen Beruf: das Heimatland verteidigen", steht auf einem der riesigen Plakate. Tatjana glaubt, dass ihr Beruf, der einer Lehrerin, dem Heimatland dient.
Man könne Kindern keine Prinzipien und keine Selbstachtung beibringen, wenn man es selbst nicht vorlebe, auch davon ist sie überzeugt. Und die Schulen nicht dem Wohl der Kinder dienten, sondern allein dem Wohl des Staates, dann müsse man eben parallele Strukturen bauen.
Sie weiß von Eltern, die neben der staatlichen Schule Nachmittagskurse für ihre Kinder organisieren - oder gleich auf Home-Schooling umstellen. Noch ist das in Russlands Bildungssystem erlaubt.