Zunehmender Rechtsextremismus Unternehmen fürchten Abschreckung von Fachkräften
Die Wirtschaft sorgt sich um den Standort Deutschland. Dabei spielt auch der zunehmende Rechtsextremismus eine Rolle, denn viele Firmen fürchten, ausländische Fachkräfte könnten abgeschreckt werden.
Hohe Inflation, hohe Energiekosten, enormer Wettbewerbsdruck aus Asien, geopolitische Konflikte - die Liste der Probleme, mit der deutsche Unternehmen derzeit zu kämpfen haben, ist lang. Ein Problem aber scheint vorherrschend: der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. Dass sich nun der Rechtsextremismus in Deutschland weiter auszubreiten scheint, verschärft die Sorgen und Bedenken: Ökonomen und Unternehmen fürchten, dass ausländische Fachkräfte dadurch abgeschreckt werden könnten.
Die deutsche Industrie betrachtet das Erstarken des Rechtspopulismus als "eine der vielen Sorgen deutscher Unternehmen". Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V. (BDI), Siegfried Russwurm, hatte bereits zu Wochenbeginn mit Blick auf die Landtagswahlen in Deutschland gefordert: "Als Industrie appellieren wir an Besonnenheit und Vernunft. Wir wollen und wir brauchen eine offene Gesellschaft und die Bereitschaft und Fähigkeit zum politischen Diskurs und zum demokratischen Kompromiss."
Willkommenskultur macht Standort attraktiv
Vor allem aber stehe nach wie vor der Fachkräftemangel im Fokus, heißt es seitens der Unternehmen. "Der Mangel an Arbeitskräften ist derzeit in der Chipbranche und der industriellen Gesundheitswirtschaft extrem." Peter Adrian, Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), sagt gegenüber tagesschau.de: "Die Suche nach geeigneten Mitarbeitern ist mittlerweile für Unternehmen quer durch alle Branchen nach den hohen Energie- und Rohstoffpreisen die größte Herausforderung." Neben dem Arbeitskräfte-Potential in Deutschland seien Unternehmen immer mehr auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen.
"Weltoffenheit, Toleranz und grenzüberschreitender Austausch sind zentrale Werte unseres auf Zusammenarbeit, Kreativität und Entfaltung angelegten Wirtschaft- und Gesellschaftsmodells", ergänzte Adrian. Der DIHK-Präsident fordert eine Willkommenskultur, die neben unkomplizierten Verfahren vor allem auf gesellschaftlicher Seite überzeuge. "Nur wenn sich Menschen bei uns wohlfühlen, werden sie zu uns kommen und nur so sind wir dauerhaft als Standort attraktiv.“
"Existenzielle Bedrohung für viele Unternehmen"
Ökonom Marcel Fratzscher, Präsident des Instituts der Deutschen Wirtschaft sowie Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität Berlin, weist besonders eindringlich auf die bereits jetzt fehlenden Arbeitskräfte in Deutschland hin - und die damit erforderliche Zuwanderung: Mit dem Renteneintritt der Babyboomer, der geburtenstarken Jahrgänge, ab 2025, würden fünf Millionen mehr Beschäftigte in Rente gehen, als junge Menschen in den Arbeitsmarkt aufrücken. "Das ist eine existenzielle Bedrohung für viele Unternehmen", so Fratzscher.
"Wir müssen uns fragen, warum nicht mehr nach Deutschland kommen", mahnt der Ökonom. Es sei eine "riesige Chance", wenn junge Menschen nach Deutschland einwandern. Nur müssten sie schnell und unbürokratisch ohne hohe Hürden integriert werden. "Rassismus ist dagegen abschreckend - gerade für Hochqualifizierte, die unter vielen verschiedenen Optionen wählen können." Vielmehr sollte die Politik ehrlich sein: wenn Deutschland Zuwanderer gut integriere, profitiere die gesamte Gesellschaft. "Wir müssen als Zuwanderungsland attraktiver werden", schlussfolgert Fratzscher.
Toleranz als Wirtschaftsfaktor
Der Wirtschaftsexperte hatte schon vor mehr als fünf Jahren gewarnt, dass die politische Radikalisierung in Teilen Deutschlands enorme wirtschaftliche Schäden anrichte. "Insbesondere gut ausgebildete, flexible Menschen wollen nicht in einer Gegend leben, in der Menschen wegen ihrer Religion oder Hautfarbe verfolgt werden", hatte Fratzscher dem Evangelischen Pressedienst bereits im Sommer 2018 gesagt.
Damals waren Rechtsextreme und Sympathisanten in Chemnitz gegen Migration auf die Straße gegangen, es war zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen. Toleranz sei ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, hatte Fratzscher vermittelt. Rechtsextremismus könne die Abwanderung verstärken.
Globale Konzerne brauchen internationale Fachkräfte
Zuletzt positionierten sich viele Unternehmen klar gegen Rechtsextremismus. Stellvertretend sei Jochen Hanebeck, CEO von Infineon Technologies, genannt, der im Netzwerk LinkedIn schrieb: "Hass und Ausgrenzung dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platz haben. Die Idee der sogenannten Remigration ist menschenverachtend." Die Chefs von Deutscher Bank, SAP, Daimler Truck, der Bundesbank und viele andere schlossen sich dem Tenor an.
Vor allem weltweit agierende Unternehmen sind auf internationale Fachkräfte angewiesen. So erklärte der Chef des Technologieriesen Bosch, Stefan Hartung: "Als internationales und global agierendes Unternehmen setzen wir uns dafür ein, dass Deutschland ein weltoffenes Land bleibt und erteilen jeglicher Position zur Ausgrenzung von Teilen der Bevölkerung eine klare Absage." Es gebe keine einfachen Lösungen für die enormen Herausforderungen dieser Zeit. Die Gesellschaft könne sie nur bewältigen, wenn sie zusammenstehe und Werte wie Vielfalt, Chancengerechtigkeit und die Teilhabe aller aufrechterhalte.
Zurückhaltung bei politischen Äußerungen
Einige Firmen halten sich aber noch immer bewusst zurück, wenn es darum geht, sich eindeutig politisch zu äußern. Vor allem die Unternehmen, die den Querschnitt der Bevölkerung bedienen, fürchten, einen Teil der Kunden zu verprellen. Deshalb äußern sich viele Unternehmen grundsätzlich nicht politisch. Sie würden jedoch ebenfalls die Folgen spüren, wenn dringend benötigtes Fachpersonal aus dem Ausland dem deutschen Standort absagt. So hat nach einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) bereits jeder zweite Betrieb Probleme, Stellen zu besetzen.
Bau und Industrie sind am stärksten betroffen
Engpässe gibt es überall; am stärksten betroffen sind jedoch die Industrie und der Bau, heißt es im Fachkräftereport der DIHK, der Ende November erschienen war. Danach bleiben 1,8 Millionen Stellen unbesetzt. Die Folge: 82 Prozent der Befragten erwarten negative Folgen für ihr Unternehmen, 40 Prozent rechnen mit einem eingeschränkten Angebot oder verlorenen Aufträgen. Für den Report waren Angaben von rund 22.000 Unternehmen ausgewertet worden.
Nach Einschätzung des ifo-Instituts könnte selbst eine jährliche Zuwanderung von 400.000 Personen die Arbeitsmarkteffekte aus der demografischen Entwicklung lediglich abfedern, aber nicht vollständig beheben.