Ukraine-Krieg Große Zweifel an diplomatischer Lösung
Die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine verlaufen schleppend, während sich der Krieg weiter zuspitzt. Kann da mit diplomatischen Mitteln überhaupt ein Ende des Ukraine-Krieges erreicht werden?
Die Verhandlungen zwischen den russischen und ukrainischen Delegationen über ein Ende des Krieges gestalten sich sehr schwierig - zu weit liegen die Positionen auseinander. Zuletzt zeigten sich beide Seiten verhalten optimistisch, einen Kompromiss erzielen zu können. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hält die russischen Positionen für "realistischer" und Russlands Außenminister Sergej Lawrow sieht "eine gewisse Hoffnung" auf eine Einigung. Inwiefern die Aussagen auf Verhandlungstaktiken zurückzuführen oder ernst zu nehmen sind, lässt sich schwer beurteilen - auch weil es nun aus dem Kreml hieß, dass es keine Aussicht auf einen baldigen Waffenstillstand gebe.
Näheres ist zum Stand der einzelnen Verhandlungspunkte nicht bekannt. Fest steht, dass sich die Kriegsgegner trotz der angeblich vorsichtigen Annäherungen weder auf Feuerpausen, noch auf verlässlich geltende Fluchtkorridore einigen konnten. Beides wäre aber laut Experten überhaupt erst die Grundlage für weitere Verhandlungen über eine Waffenruhe.
So lauten die Forderungen Russlands weiterhin: die Anerkennung der "Volksrepubliken" im Donbass als unabhängige Staaten, die Anerkennung der annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisch sowie die verfassungsmäßige Neutralisierung und Demilitarisierung der Ukraine. Die Ukraine fordert ein Ende des Krieges und einen Abzug der russischen Truppen ohne territoriale Verluste zu verzeichnen und sie besteht auf Sicherheitsgarantien.
Sind die Positionen überhaupt vereinbar?
Der österreichische Politikwissenschaftler Gerhard Mangott hält die Positionen beider Seiten derzeit für "völlig unvereinbar". Mangott sieht wenig Möglichkeiten für Russland von seinen Forderungen abzuweichen, da sich die russische Seite in diesem Fall nach dem Sinn des Angriffskrieges fragen lassen müsse. Solange die Ukraine militärisch nicht kapituliere und gar nicht anders könne, werde sie die drei Forderungen Moskaus nicht akzeptieren, so Mangott im Gespräch mit tagesschau.de. Deshalb sei er "sehr skeptisch", ob es in absehbarer Zeit einen Durchbruch geben werde. Wenn, dann sei dies letztlich bei einem Treffen zwischen Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj denkbar. Dies lehnt Putin jedoch noch immer ab.
Christian Mölling, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGfA), betont, die Forderungen Russlands nach einer Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine seien Euphemismen. Demilitarisierung heiße nichts anderes als die Kapitulation der Ukraine, und eine Entnazifierung bedeute die Entmachtung, Gefangennahme und möglicherweise Tötung der Regierung in Kiew. "Das ist natürlich überhaupt nicht akzeptabel", so Mölling, und mache Verhandlungen zu einem nahezu unmöglichen Unterfangen.
Welche Forderungen scheinen verhandelbar?
Eine zentrale Rolle in den Verhandlungen spielt die Forderung nach der ukrainischen Neutralität. Diese scheint für beide Seiten am ehesten verhandelbar, doch in der Konkretisierung, was eine neutrale Ukraine bedeutet, gehen auch hier die Positionen weit auseinander. Während der Kreml eine Neutralität nach dem Vorbild Schwedens für möglich hält, fordert die Ukraine "absolute Sicherheitsgarantien" von westlichen Partnern, die sich im Falle einer Aggression auch militärisch an die Seite der Ukraine stellen.
Sicherheitspolitik-Experte Mölling, glaubt nicht, dass die von der Ukraine geforderten Sicherheitsgarantien akzeptiert werden. "Wenn der Westen zum jetzigen Zeitpunkt nicht in den Krieg einsteigt, wird er nach dem Friedensschluss bei einem erneuten Überfall auch nicht bereit sein, militärisch einzusteigen", erläutert er gegenüber tagesschau.de.
Sicherheitsgarantien eine Art "Mini-NATO"?
Auch Andreas Umland, Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien, hält das Szenario für unwahrscheinlich: "Wenn der Westen Sicherheitsgarantien dieser Art an die Ukraine gibt, wird Russland nicht zufrieden sein. Das wäre im Prinzip eine Mini-NATO, also ein kleines militärisches Bündnis." Insofern sei es schwer vorstellbar, worauf man sich konkret hinsichtlich der Neutralität einigen könne. Die Ukraine bräuchte allerdings Sicherheitsgarantien, die über Nichtangriffsgarantien seitens Russlands hinausgingen, denn diese gebe es bereits in etlichen von Moskau unterschriebenen multi- und bilateralen Vereinbarungen mit der Ukraine, am ausdrücklichsten im Budapester Memorandum über Sicherheitszusagen von 1994. Sie wurden von Russland jedoch mehrfach gebrochen.
Der Osteuropahistoriker Wilfried Jilge vom Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) sagt im Gespräch mit tagesschau.de, dass Neutralität für die Ukraine nicht heißen könne, dass sie sich jeglicher militärischer Ausrüstung entledige. "Die Ukraine wird darauf bestehen, dass sie sich weiterhin verteidigen kann. Und sie wird unter Neutralität ausschließlich Militärbündnisse verstehen, aber nicht unbedingt die Europäische Union."
Anerkennung der "Volksrepubliken" schwer vorstellbar
Gwendolyn Sasse, Wissenschaftliche Direktorin des Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), hält die Neutralitätsfrage nichtsdestotrotz für einen Punkt, der eher verhandelbar sei als den Verlust ukrainischer Gebiete: "Ein aus der Not geborener Neutralitätsstatus ließe sich vermutlich eher vermitteln als ein endgültiger territorialer Verlust. Eine Verhandlungsoption könnten international abgesicherte lokale Referenda über die Zugehörigkeit zum ukrainischen oder russischen Staat sein."
Für Selenskyj wäre es keineswegs einfach, die "Volkrepubliken" als unabhängige Staaten anzuerkennen. Selenskyj hat Bereitschaft gezeigt, über den Status der Gebiete im Donbass zu sprechen, aber es ist fraglich, ob Selenskyj sie tatsächlich anerkennen würde. Schließlich gehe es nicht nur um die Separatistengebiete vor Beginn des Krieges, sondern um die ganze Donbass-Region, sagt der Osteuropahistoriker Jilge. Russland habe große Pläne am Schwarzen Meer, weshalb mindestens anzuzweifeln wäre, ob Russland bereit wäre, sich aus den Städten im Süden der Ukraine wieder zurückzuziehen und die umfassenden Seegebietssperrungen vor den ukrainischen Häfen der Südküste wieder aufzuheben. Deshalb wäre die Anerkennung der "Volksrepubliken" dem ukrainischen Parlament und der Bevölkerung sehr schwer vermittelbar, wenn nicht nahezu unmöglich.
"Auch, wenn es einen Waffenstillstand oder möglicherweise etwas gibt, was man als zwischenzeitliche Friedensvereinbarung sehen kann, hört der Konflikt damit ja nicht auf. Die Ukrainer werden nicht aufgeben, sich die Ukraine zurückzuholen", sagt auch Mölling.
Wie ernsthaft wird verhandelt?
Dass eine schnelle diplomatische Einigung unwahrscheinlich ist, könnte für den Historiker Jilge vom ZIF noch einen anderen Grund haben - er vermutet dahinter eine perfide Strategie Russlands. Solange Russland weiterhin Krieg führe und damit die ukrainische Infrastruktur zerstöre sowie Zivilisten töte, müsse man sich die Frage stellen, inwiefern Russland ernsthaft "über irgendetwas verhandeln will, was für die Ukraine akzeptabel ist".
Wenn kein spürbarer Rückgang des Raketenbeschusses einsetze, "müssen wir befürchten, dass Russland hier ein Spiel an verschiedenen Fronten spielt". Auf der einen Seite nähre es mit den Verhandlungen Hoffnung und auf der anderen Seite führe es weiter Krieg und versuche, Selenskyjs Positionen dadurch aussichtsloser werden zu lassen. "Das heißt, es kann auch eine doppelbödige Strategie sein, um Selenskyj den Boden unter den Füßen immer weiter zu entziehen", erklärt Jilge.
Verhandlungsabsichten Russlands "wenig glaubhaft"
Auch Mölling von der DGAP hält die derzeitigen Verhandlungsabsichten Russlands für "vorgeschoben" und "wenig glaubhaft". Selbst wenn sich die russische Seite etwas bewege, "ist man noch lange nicht an dem Punkt angekommen, wo man wirklich auf Augenhöhe verhandelt". Erst wenn die Kosten für den Krieg auf russischer Seite weiter steigen, könne er sich vorstellen, dass es zu "echten Verhandlungen" komme, sagt Mölling im Interview mit tagesschau.de.
Gwendolyn Sasse vom ZOiS kann bei Putin "diesen Willen zu wirklichen Verhandlungen nicht erkennen". Um die Verhandlungsbereitschaft Putins notgedrungen zu erhöhen, müsse der Unmut in den eigenen Reihen der russischen Eliten und der Gesellschaft wachsen sowie die Streitkräfte sichtbar demoralisiert sein, schreibt Sasse auf Anfrage. Dies sei derzeit jedoch nur vereinzelt der Fall, weshalb Russland sich weiterhin auf seine Maximalforderungen zurückziehe.
Der Druck auf Russland müsse massiv steigen - durch härtere Sanktionen und mehr Waffenlieferungen an die Ukraine, sagt Analyst Umland. "Erst wenn in Moskau verstanden wird, dass die Kosten zu hoch sind, die Erfolgsaussichten zu niedrig sind, dann wird es ernsthafte Verhandlungen geben."