EU-Verhandlungen Warum ein Ukraine-Beitritt Risiken birgt
Die Ukraine ist eines der größten Länder Europas und zugleich das ärmste, hinzu kommt die Korruption. Vor dem Krieg war es kaum vorstellbar, dass das Land Mitglied der EU werden könnte. Aber Putins Angriff hat alles verändert.
Bei allem Hin und Her um den Start von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, bei allem Streit um Veto-Drohungen aus Ungarn und Retourkutschen aus Österreich - in einem Punkt dürften die Europäer sich einig sein: Ohne Russlands Angriffskrieg würde niemand ernsthaft über die Aufnahme der Ukraine in die EU reden.
Mit 40 Millionen Einwohnern vor dem Krieg gehört die Ukraine zu den größten Ländern Europas - aber sie ist gleichzeitig eines der ärmsten. Zur Armut kommt Korruption und eine fast 2000 Kilometer lange Grenze zu Russland. Jahrelang war es kaum vorstellbar, dass ein solches Land Mitglied der EU werden könnte.
Höchstens in einer sehr fernen Zukunft, das prophezeite Frankreichs Staatspräsident Emanuel Macron noch im Mai 2022 - und da tobte der Krieg schon mehrere Wochen. Sicher, die Ukraine sei wegen ihres mutigen Kampfes "EU-Mitglied der Herzen", räsonierte Macron. "Aber wir wissen doch alle, dass der Beitritt nicht Jahre dauern wird, sondern mehrere Jahrzehnte".
Skepsis nicht nur bei Macron
Macron stand mit seiner Skepsis nicht allein, auch in anderen Hauptstädten fragte man sich, ob die EU sich mit der Ukraine nicht übernehmen würde. Allein schon finanziell.
Zur Zeit ist Bulgarien das ärmste Land in der EU - aber wenn man sich das Pro-Kopf-Einkommen ansieht, sind die Ukrainer weit dahinter abgeschlagen. Sie haben nicht einmal die Hälfte des Geldes, dass den Bulgaren zur Verfügung steht.
Und das bedeutet für den EU-Haushalt, der dem Ziel einer gerechteren Wohlstandsverteilung verpflichtet ist: Viele Länder, die jetzt noch Netto-Empfänger sind, würden zu Netto-Zahlern. Wer heute noch jedes Jahr Milliarden aus den Brüsseler Gemeinschaftstöpfen bekommt, müsste dann mit ähnlichen Summen die Ukraine unterstützen.
Hohe Ansprüche bei Agrarsubventionen
Allein aus den Agrarfonds hätte die in weiten Teilen landwirtschaftlich geprägte Ukraine so hohe Ansprüche an Flächenprämien, wie kein anderes Land. Die Ukraine würde das gesamte System der Agrarsubventionen - und damit ein Drittel des gesamten EU-Haushalts - crashen, das fürchten Agrarexperten in Brüssel.
Andere sehen eher die Chance, dass die überkommene Agrarpolitik endlich reformiert wird, weil es gar nicht anders geht. Was natürlich die bisherigen Profiteure der Brüsseler Umverteilung auf den Plan ruft. Polen zum Beispiel, eigentlich für eine schnelle Integration der Ukraine in die EU, zögerte keine Sekunde mit dem Boykott ukrainischer Getreideimporte, als die Interessen der eigenen Bauern bedroht waren.
EU-Komission will grünes Licht geben
Kann die EU sich eine solche Umverteilung überhaupt leisten? Sie muss, heißt es in der Kommission und deren Präsidentin Ursula von der Leyen betont, dass es dabei um ganz andere Ziele geht, um höhere: "Die Ukraine kämpft nicht nur gegen den Angreifer, sondern für Europa", erklärte von der Leyen gerade wieder im Europaparlament in Straßburg. "In unsere Familie zu kommen, wäre der ultimative Sieg der Ukraine". Dabei solle die EU jetzt die entscheidende Rolle spielen.
Die Kommission empfiehlt, beim Gipfel grünes Licht für Beitrittsgespräche zu geben. Die Gespräche könnten sogar schon während des Krieges beginnen, finden Vertreter der Bundesregierung - auch so ein Gedanke, der vor einigen Monaten noch völlig unvorstellbar war.
Geopolitisches Zeichen gegen den Kreml
Aber Putins Aggression hat den Blick auf die Erweiterungsstrategie verändert. Es geht um ein geopolitisches Zeichen gegen den Kreml, da blickt man milder auf die Rechtsstaatsdefizite in der Ukraine.
Vor dem Krieg stand die Ukraine im Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 122. Und der Europäische Rechnungshof konstatierte Korruption bis in höchste Regierungskreise. Kann es sein, dass sich das im Krieg geändert hat?
Durchaus, findet Kommissionspräsidentin von der Leyen und wird nicht müde zu loben, wie das ukrainische Parlament unter schwierigsten Bedingungen im Krieg ein Anti-Korruptionsgesetz nach dem anderen durchgepeitscht hat.
Korruption als Hürde
Gleichzeitig decken Medien immer wieder neue Korruptionsskandale auf. Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung sind Justiz und Behörden, die eigentlich gegen Korruption vorgehen sollen, "selbst von Korruption durchsetzt".
Danach verlangen zuständige Beamte systematisch bis zu sechsstellige Bestechungsgelder. Mehr als 40 der führenden ukrainischen Wirtschaftsunternehmen klagten deshalb öffentlich über eine "Welle der Korruption", die Grund sei für eine "zweite Welle der Emigration von Industriegeschäften ins Ausland".
Folgen bis in höchste Kreise
Wegen Bereicherung in Staatsämtern oder Untätigkeit gegen Korruption entließ Präsident Wolodymyr Selenskyj schon seinen Verteidigungsminister, weitere Vizeminister, den Vizechef des Präsidialamtes und sogar den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs. Der Mann hatte rund drei Millionen Dollar Bestechungsgelder angenommen.
Beweist das, dass die Kontrollen Wirkung zeigen? Oder spitzt sich das Problem gerade noch zu? In Brüssel sieht man die Entwicklung mit Sorge, schließlich fließen Milliarden EU-Gelder in die Ukraine und decken dort inzwischen einen großen Teil der laufenden Regierungstätigkeit ab.
Geopolitische Interessen im Vordergrund
In der Debatte über den Start von Beitrittsverhandlungen stand lange die Erfüllung der Rechtsstaatskriterien im Vordergrund, berichtet ein hochrangiger EU-Diplomat - also Kampf gegen Korruption, Oligarchen-Macht und Geldwäsche.
Das habe sich verschoben, sagt der Diplomat, inzwischen stünden die geopolitischen Interessen der EU im Vordergrund. Was übersetzt ungefähr so viel bedeutet, dass die Ukraine durch möglichst schnelle Anbindung und dann Integration in die EU weiteren Übergriffen durch Moskau entzogen werden soll. Auch mit dem Ziel einer Absicherung der EU.
Die Frage der exorbitanten Kosten wird gleichwohl aktuell bleiben, auch die Frage nach einschneidenden Reformen des Gemeinschaftshaushalts und der Entscheidungsabläufe. Der niederländische Europaexperte Matthias Matthijs sieht darin Chancen und zugleich Risiken für die EU.
Rückschritt auf Niveau der 1990er-Jahre?
"Durch die Aufnahme der Ukraine bekommt die Idee mehr Gewicht, dass die EU eine geopolitische und geoökonomische Rolle spielt", sagt Matthjis, der zur Zeit in Washington an der Johns Hopkins Universität lehrt.
Allerdings müsse die EU dafür wahrscheinlich einen Preis zahlen, weniger Vertiefung in der Zusammenarbeit der Mitgliedsländer. "Es gibt einfach das Risiko, dass die Europäische Union weniger kohärent wird durch die Erweiterung" vermutet Matthijs. Er hält es für wahrscheinlich, dass die EU bei der Integration einen Rückschritt in Kauf nehmen muss - bis auf das Niveau der Mitte der 90er Jahre.