Angriff auf Israel Was sind die Folgen für die Ukraine?
Die Regierung in Kiew versucht der Welt zu vermitteln, dass Israel und die Ukraine den gleichen Krieg führen. Grund ist die Sorge vor einer brutalen Neuordnung der Welt - und die Angst, vergessen zu werden.
Mit großer Sorge blickt die ukrainische Führung auf die Entwicklungen in Israel. "Es besteht die Gefahr, dass sich die internationale Aufmerksamkeit von der Ukraine abwendet, und das wird Folgen haben", warnte Wolodymyr Selenskyj gegenüber französischen Journalisten.
Seit Tagen versuchen der ukrainische Präsident und sein Team den Westen davon zu überzeugen, dass Israel und die Ukraine im Prinzip den gleichen Krieg führen. Der einzige Unterschied sei, dass Israel von einer Terrororganisation und die Ukraine von einem Terrorstaat - nämlich Russland - angegriffen worden sei, sagt Selenskyj.
Warnung vor neuer Weltordnung
Hinter dieser Argumentation steht die Befürchtung, die finanziellen und militärischen Hilfen für die Ukraine aus dem Westen könnten nachlassen. Aber auch die Annahme, dass sich die Welt in einem brutalen Neuordnungsprozess befinde, ausgefochten zwischen autokratischen und demokratischen Ländern.
Im Interview mit dem französischen Fernsehsender France 2 warnte Selenskyj erneut vor einem Dritten Weltkrieg. China, Iran und Russland wollten eine neue Weltordnung errichten, meint Serhij Danylow, stellvertretender Direktor des Zentrums für Nahoststudien in Kiew: "Es ist eine Art nicht erklärter Krieg, der eigentlich schon im Gange ist." Eine Situation, die vergleichbar sei mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. "Niemand wollte ihn, aber er ist doch passiert", sagt er.
Konkurrenz um Ressourcen?
Die Hilfe für die Ukraine müsse nun erhöht werden, fordert Danylow. "Das wäre ein Schritt, um einen größeren Krieg zu verhindern, denn damit wird die Fähigkeit Russlands verringert, Kriege zu beginnen." Ähnlich sieht es auch Iwanna Klympusch-Zynzadse: "Das ist eine gemeinsame Anstrengung, die Überreste der internationalen Ordnung zu untergraben", sagt die ukrainische Parlamentsabgeordnete vom oppositionellen Block Poroschenko. Wenn das verstanden sei, dürfe die Unterstützung für die Ukraine nicht abnehmen. Im Gegenteil.
Doch davon sei der Westen weit entfernt, befürchten viele Beobachter. "Die Kombination aus Haushaltsstreit und Israel-Hilfe der USA wird erforderlich machen, dass die Europäer bei der Militärhilfe für die Ukraine mehr einspringen", sagt der deutsche Sicherheitsexperte Nico Lange. Europa dürfe es seiner Meinung nach nicht zulassen, dass für die Ukraine eine Lücke entstehe.
Inwieweit sich der Krieg im Nahen Osten auf die militärische Unterstützung für die Ukraine auswirkt, wird in Kiew kontrovers diskutiert. "Das hängt von Dauer und Ausmaß des Konfliktes in Israel ab", sagt Ilia Kusa, Experte für internationale Politik. Es sei zu früh zu behaupten, der Krieg in Israel werde sich negativ auf die Unterstützung für die Ukraine auswirken. Experten gehen davon aus, dass beide Länder zunächst nicht um Ressourcen konkurrieren.
Ukraine baut Rüstungsindustrie aus
Mit einer massiven Rüstungskampagne versucht die Ukraine schon jetzt, von westlichen Partnerländern weniger abhängig zu werden. Die eigene Rüstungsindustrie soll gestärkt werden und in Zukunft sollen auch ausländische Unternehmen in der Ukraine Ersatzteile für Militärtechnik oder Munition produzieren. Anfang Oktober fand in Kiew ein Treffen von mehr als 200 internationalen Rüstungsunternehmen statt.
Laut Aussage von Oleksandr Kamyschin, ukrainischer Minister für strategische Industrien, begann eine türkische Firma bereits mit dem Bau einer Produktionsstätte in der Ukraine. Gemeinsam mit den Briten würden bereits Haubitzen produziert, und auch die Zusammenarbeit mit der deutschen Firma Rheinmetall sei bereits angelaufen.
Die Rüstungsindustrie sei glücklich, sagt der Sicherheitsanalyst Mychajlo Samus über das Treffen in Kiew. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Prozess gestoppt werden kann." Samus gibt sich optimistisch. Der Krieg in Israel könne sich sogar positiv für die Ukraine auswirken. "Die Politik und die Öffentlichkeit verstehen jetzt, dass es einen Zusammenhang gibt. Das ist offensichtlich", sagt er. "Und Israel versteht auch, wer die Hamas unterstützt: der Iran."
Ukraine zunehmend auf Europa angewiesen
Doch dass sich die Kräfte im Nahen Osten fundamental zugunsten der Ukraine verschieben, bezweifelt Nahostexperte Serhij Danylow: Benjamin Netanyahu pflege enge Beziehungen nach Russland. Im Wahlkampf 2019 zeigten riesige Plakate den israelischen Ministerpräsidenten beim freundlichen Handschlag mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Danylow erinnert sich zurück an eine Diskussion mit israelischen Kollegen. Warum Israel auch nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine eine solche Position vertrete, habe er gefragt. "Sie sagten: Weil wir in Syrien unsere Flugkoordinaten mit Russland teilen und nicht mit euch." Israel ist bei seinen Angriffen auf Hisbollah-Stellungen in Syrien also auf die Gunst der russischen Luftwaffe angewiesen. An diesem strategischen Interesse werde auch der aktuelle Krieg nichts ändern, meint Danylow.
Umso mehr sei die Ukraine nun auf die Europäer angewiesen, meint Klympusch-Zynzadse. "Harte Zeiten erfordern Führung", sagt die ukrainische Parlamentsabgeordnete. "Es braucht Mut, um sicherzustellen, dass das, woran man glaubt, auch in die Tat umgesetzt wird und nicht nur als Slogan deklariert wird."
"Deutschland muss europäischer werden"
Ob das aber in Europa verstanden wird, bezweifeln einige in der Ukraine. "Das Problem ist, dass die Weltordnung nicht zusammenbricht, sondern eine Plattitüde ist", sagt der ehemalige Außenminister Pawlo Klimkin. "Das wirkliche Problem ist, dass viele in Europa so tun, als sei alles mehr oder weniger okay."
Eine besondere Verantwortung komme dabei Deutschland zu. "Deutschland muss europäischer werden und eine echte Führungsrolle in Europa übernehmen. Es gibt sonst niemanden", fordert Klimkin.
Das gesamte System in Gefahr
Die fundamentalen Veränderungen in der Wahrnehmung sicherheitspolitischer Herausforderungen, die Deutschland und viele andere europäische Länder nach dem russischen Angriff auf die Ukraine erlebt haben, erkennen viele in Kiew an. "Das ist ein wirklich großer Unterschied zur schwachen Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim", sagt Klympusch-Zynzadse. Doch auch sie fordert mehr europäische Führungsstärke.
Geschehe dies nicht, da sind sich viele in der Ukraine einig, werde das tragische Konsequenzen nicht nur für die Ukraine haben. "Das gesamte System ist in Gefahr", warnt Klympusch-Zynzadse. "Das bedeutet, dass alles, woran Sie glauben, und alles, was Sie für selbstverständlich halten, ruiniert wird."