Ein ukrainischer Soldat schaut in einem Schützengraben durch ein Fernglas.
interview

Stopp von US-Hilfen für die Ukraine "Wir sind als nächstes dran, wenn wir uns nicht wappnen"

Stand: 04.03.2025 13:11 Uhr

Was bedeutet Trumps Stopp von US-Militärhilfen für die Ukraine? Militärexperte Frank Sauer erklärt, was dadurch alles wegbricht, wie lange die Ukraine noch durchhalten kann - und was das für den Rest Europas bedeutet.

tagesschau.de: Die USA haben ihre Militärhilfen für die Ukraine eingestellt. Was heißt das kurzfristig für die Ukraine? Wie lange kann sie jetzt noch durchhalten?

Frank Sauer: Es gab vergangenes Jahr bereits die Phase, in der die US-Hilfen aufgrund von Trumps Einwirken auf die Republikaner lange im Kongress festhingen und nichts mehr geliefert wurde. Das hatte keine sofortigen und unmittelbaren Auswirkungen auf das Gefechtsfeld in der Ukraine.

Aber mittelfristig schlug sich das natürlich nieder, etwa im Bereich der Luftverteidigung. Konkret sind dann wegen der ausbleibenden Hilfe unter anderem in ukrainischen Städten durch den anhaltenden russischen Raketen- und Drohnenbeschuss mehr Zivilisten gestorben oder verwundet worden.

Das an die Ukraine zu liefernde US-Material ist übrigens bezahlt und liegt jetzt ungenutzt herum. Dem US-Steuerzahler nutzt diese Aktion rein gar nichts. Sie nutzt nur Putin, der aktuell weniger denn je einen Anlass hat, sich um Frieden zu bemühen. Trump steht fest an Russlands Seite gegen die Ukraine. Und wir im restlichen Europa sind als nächstes dran, wenn wir uns nicht mit aller Kraft wappnen.

Dr. Frank Sauer
Zur Person
PD Dr. Frank Sauer ist Head of Research am Metis Institut für Strategie und Vorausschau der Universität der Bundeswehr München. Er forscht und publiziert unter anderem zu Fragen der internationalen Politik, insbesondere dem Verhältnis zwischen Technologie und Sicherheit.

Auswirkungen auf Luftverteidigung, Artillerie, Beratung, Aufklärung

tagesschau.de: Welche Kapazitäten fallen ohne US-Unterstützung für die Ukraine weg? 

Sauer: Ich sehe primär vier Felder, in denen sich ein dauerhafter Wegfall sämtlicher US-Hilfen für die Ukraine stark niederschlagen wird. Das erste ist die eben erwähnte Luftverteidigung, insbesondere das System "Patriot", das eine entscheidende Rolle beim Schutz ukrainischer Städte und kritischer Infrastruktur spielt, man denke an Strom, Wärme, Wasser und militärische Einrichtungen. 

"Patriot"-Lenkflugkörper wurden bisher nur in den USA hergestellt. Das Rüstungsunternehmen MBDA in Schrobenhausen wird nun zukünftig solche in Europa produzieren - aber noch ist diese Produktion nach meinem Kenntnisstand nicht angelaufen.

Das zweite Feld ist die Artillerie samt Munition. Das betrifft sowohl Rohr- als auch Raketenartillerie, wie etwa den Mehrfachraketenwerfer HIMARS. Der Mangel an 155mm-Rohrartilleriemunition ist nicht mehr so extrem wie noch im letzten Jahr, auch weil Europa seine Produktion inzwischen hat ausweiten können.

Außerdem spielt Artillerie inzwischen auf dem Gefechtsfeld eine insgesamt geringere Rolle als noch zu Kriegsbeginn, weil Drohnen, die die Ukraine zum Glück in großen Stückzahlen selbst produziert, in den vergangenen eineinhalb Jahren so viel bedeutsamer geworden sind. Aber der Wegfall wäre nichtsdestotrotz ein Problem und müsste kompensiert werden.

Das dritte Feld ist der Bereich Ausbildung und Beratung, auch mit Blick auf die Unterstützung durch Software zur Informationssammlung und -verarbeitung. Das vierte Feld umfasst alles, was mit Kommunikation sowie mit Aufklären, Überwachen und Erfassen von Zielen zu tun hat. Hier spielen Satelliten und luftgestützte Plattformen eine Rolle, etwa Aufklärungsdrohnen oder auch bemannte Systeme wie die "P-8 Orion". Außerdem ist hier natürlich die Nutzung des Satellitennetzwerkes Starlink zu nennen.

"Entscheidend sind Informationen über den Gegner"

tagesschau.de: Welche Fähigkeiten davon sind für die Ukraine besonders wichtig?

Sauer: Die Luftverteidigung ist wichtig, vor allem zum Schutz der Zivilbevölkerung und der kritischen Infrastruktur. Aber ich denke, dass die zuletzt genannten Dinge die kritischen sind. Das ist vielleicht etwas kontraintuitiv, weil man denken würde, dass Panzer und Artillerie und Raketen das Entscheidende sind. Aber dieser Krieg wird bereits seit Monaten von beiden Seiten vor allem infanteristisch geführt. Größere mechanisierte Angriffe finden so gut wie nicht statt.

Und in diesem infanteristischen Kampf sind wiederum die Drohnen die wichtigsten Waffen, die inzwischen die meisten Verluste erzeugen. Entscheidend für die Ukraine sind dabei hochqualitative Informationen über den Gegner, die operative Situation sowie mit Blick auf das Generieren von Zielen. Vereinfacht gesagt: Die Ukraine kann ohne die USA nicht weit hinter die feindlichen Linien und nicht nach Russland hineinschauen.

In Sachen Aufklärung ist die Unterstützung der USA für die Ukraine also besonders wertvoll. Das Abschalten von Starlink hätte wiederum katastrophale Auswirkungen für die Kommunikation.

"Der kritische Bereich wäre fürs Erste nicht ersetzbar"

tagesschau.de: Was könnten die Europäer davon mit ihren derzeitigen Fähigkeiten ersetzen - vorausgesetzt, der politische Wille ist vorhanden?

Sauer: In einigen der genannten Felder könnte Europa mit seinen Kapazitäten einspringen und zumindest teilweise das kompensieren, was durch einen Wegfall der US-Unterstützung auf ukrainischer Seite fehlen würde.

Dazu müssten wir jetzt kurzfristig genug Geld und Material in die Hand nehmen und liefern sowie mittelfristig die europäischen Produktionskapazitäten in Europa massiv ausbauen. Das hätte eigentlich schon längst geschehen müssen. Aber jetzt ist der zweitbeste Moment, damit anzufangen.

Gerade der besonders kritische Bereich aber wäre fürs Erste nicht ersetzbar. Alles rund um das, was mit militärischer Führung, Informationsgewinnung und -verarbeitung, mit Kommunikation, Aufklärung, Überwachung sowie Zielgenerierung zu tun hat, ist in der NATO Teil dessen, was "strategic enabler" genannt wird. Und bei diesen sind wir ein Europa selbst auf die USA angewiesen. Was uns im Fall der Fälle selbst fehlen würde, können wir nicht der Ukraine zukommen lassen.

"Können endlich das eingefrorene Vermögen Russlands beschlagnahmen"

tagesschau.de: Heute hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen milliardenschweren "Plan zur Wiederaufrüstung Europas" vorgeschlagen. Gibt es Bereiche, in denen die Europäer kurzfristig ihre Kapazitäten hochfahren oder verbessern könnten?

Sauer: Ja, wir können durch Investitionen in die Rüstungsindustrie die Produktionskapazitäten für benötigte Munition ausweiten und mehr Munition liefern. Wir können durch die Bereitstellung zusätzlicher Flugabwehrsysteme die ukrainische Luftverteidigung stärken.

Vor allem aber können wir endlich das rund 200 Milliarden Euro schwere, in Europa eingefrorene Vermögen Russlands beschlagnahmen und damit die Bereitstellung von Mitteln für den Kauf von Rüstungsgütern durch die Ukraine weiter unterstützen. Die veränderte Lage seit dem Vorfall im Weißen Haus am Freitag hat hoffentlich auch in diesem bisher strittigen Punkt ein Umdenken erzeugt.

Auch die sogenannten ESG-Kriterien für die Berücksichtigung von Umwelt-, Nachhaltigkeits- und Sozialfragen kann Europa anpassen, so dass Privatkapital leichter in die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie fließen kann. 

Völkerrechtliche und politische Bedenken wiegen nun weniger schwer, wie mir scheint. Ich persönlich denke, dass wir in Europa notgedrungen zeigen müssen, dass wir auch mit harten Bandagen kämpfen können.

"Die Abhängigkeiten Europas von den USA sind groß"

tagesschau.de: Gibt es Fähigkeiten der Europäer, die durch mangelnde militärische Unterstützung der USA nicht mehr oder nicht ausreichend einsatzfähig wären?

Sauer: Die Liste ist lang, die Abhängigkeiten sind groß. Denken Sie als ein erstes Beispiel an das bereits genannten System "Patriot", das ja nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Deutschland sowie einem weiteren halben Dutzend europäischer Länder genutzt wird.

Wir haben in Europa andere extrem gute Luftverteidigungssysteme, aber keines, das gegen Ziele wirken kann, die "Patriot" abdeckt. Oder denken Sie an die F-35, das moderne Kampfflugzeug, das diverse europäische NATO-Staaten entweder schon fliegen oder bestellt haben. Auch die Bundeswehr hat bekanntlich bestellt - und bei uns soll die F-35 ja zudem noch das Trägersystem für die nukleare Teilhabe sein.

Für beides, F-35 und nukleare Teilhabe, haben wir in Europa keinen Ersatz. Zumindest nicht auf die Schnelle - ganz gleich, was viele sich jetzt in der Not von Frankreich und Großbritannien in Sachen erweiterter nuklearer Abschreckung erhoffen.

Außerdem fällt mir noch die Fähigkeit zu präzisen Schlägen mit größerer Reichweite ein, denn auch bei "Deep Precision Strike" stehen wir ohne die USA blank da. Im Sommer vergangenen Jahres hatte es am Rande des NATO-Gipfels in Washington die Verlautbarung gegeben, ab 2026 mit der "Multi Domain Task Force" eine entsprechende US-Fähigkeit in Deutschland zu stationieren. Aber ich persönlich rechne seit Trumps Amtsantritt schon nicht mehr damit, dass das kommt. Das europäische Äquivalent - ELSA, der "European Long Range Strike Approach" - wird gerade erst entwickelt. Da müssen wir nun auch unbedingt beide Füße aufs Gaspedal stellen.

Zu guter Letzt sind noch andere Dinge zu nennen, wie die Cyberabwehr oder der Austausch zwischen den Geheimdiensten. Gerade was letztere angeht, haben wir massiv von den USA profitiert. Aber natürlich flossen auch Informationen in die andere Richtung. Jetzt muss man sich fragen, ob diese nicht schnurstracks auch im Kreml landen. Denn US-Präsident Trump hat ja de facto die Seiten gewechselt und die USA nicht mehr gegen, sondern an der Seite von Russland positioniert.

"Man muss sich von dem Begriff 'Friedenstruppe' verabschieden"

tagesschau.de: Falls es doch noch zu einer Waffenruhe kommen sollte: Wie viele Soldaten könnte Europa realistischerweise für Friedenstruppen stellen?

Sauer: Das ist keine einfach zu beantwortende Frage, weil sie auch massiv von den politischen Gegebenheiten und der konkreten Einigung abhängt. Aber ein paar allgemeinem Punkte lassen sich festhalten.

Zuallererst muss man sich wohl von dem Begriff "Friedenstruppe" verabschieden. Das wird keine UN-Friedensmission. Vielmehr würde das eine entsprechend mandatierte europäische Truppenpräsenz in der Ukraine sein müssen, mit der die Ukraine logistisch, materiell und durch Training unterstützt sowie vor allem für den Fall der Fälle rückversichert wird.

Russland muss abgeschreckt werden. Dazu muss vor allem der Wille auf europäischer Seite da sein. Man muss es klar sagen: So eine Präsenz wirkt überhaupt nur dann abschreckend, wenn Russland weiß, dass Europa nicht einknickt, sollte es die Ukraine ein weiteres Mal angreifen. Russland hätte dann auch den Krieg mit uns gesucht - und den müssten wir dann führen und gewinnen.

Es braucht also politische Geschlossen- und Entschlossenheit. Das zweite sind die Kapazitäten. Da werden verschiedene Zahlen herumgereicht. Claudia Major und Aldo Kleemann von der Stiftung Wissenschaft und Politik haben in einem Papier jüngst die Zahl von 150.000 Soldatinnen und Soldaten geschätzt. Die ist aktuell, wie die beiden selbst schreiben, illusorisch.

Eine geringere Präsenz wäre denkbar, wenn man sie als "Stolperdraht" konzipiert. Der Angriff wäre also nur ein Auslöser für eine größere europäische Reaktion. Dann wären vielleicht drei bis fünf Brigaden ausreichend, die mit dem entsprechenden Willen durchaus generiert werden könnten. Ganz grob über den Daumen gepeilt sind das 20.000 Soldatinnen und Soldaten - aber um eine Rotation aufrechtzuerhalten, sind es natürlich in Wirklichkeit 60.000, also das Dreifache.

Dabei wäre dann zu bedenken, dass, sollte durch einen russischen Angriff der "Stolperdraht" ausgelöst werden, auch genug Verstärkung sehr schnell nachgeführt werden müsste. Und die müsste zunächst wieder das russische besetzte Gebiet freikämpfen - und das dauert.

Das ist eigentlich etwas, was niemand will. Denn es ist ja bekannt, wie Russland in den besetzten Gebieten mordet, vergewaltigt, verschleppt und foltert. Zu guter Letzt ist klar, dass alles, was in der Ukraine aufgebracht wird, woanders fehlt. Es würden also Lücken in der Verteidigung an anderen Punkten entstehen. Wie gesagt: Alles nicht einfach, aber natürlich müssen wir für diese Eventualität jetzt schon planen und auch jetzt Signale der Entschlossenheit in Richtung Kreml senden.

Ich rechne trotzdem nicht damit, dass sich der Bedarf sehr bald konkretisiert und es zeitnah Frieden in der Ukraine gibt. Russland lässt keinerlei Interesse an irgendeiner Art von Einigung erkennen. Wir wären gut beraten, weniger Trump'schen Phantomfriedensdiskussionen hinterherzulaufen und mehr die Ukraine und uns selbst zu ertüchtigen. Ich halte es aktuell für wahrscheinlicher, dass Putin den Krieg ausweitet und uns woanders militärisch testet und politisch zu spalten versucht, als dass er einer Waffenruhe in der Ukraine zustimmt.

Das Gespräch führten Christoph Schwanitz und Eckart Aretz, tagesschau.de.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 04. März 2025 um 12:00 Uhr.