Spitzenkandidaten in Thüringen Zwischen Regierung und außerparlamentarischer Opposition
In Thüringen deuten sich nach der Wahl komplizierte Mehrheitsverhältnisse an. Während manche um den Einzug in den Landtag bangen, starten andere durch. Mit wem FDP, BSW, Grüne und SPD in die Wahl gehen.
- Die Beliebtheit von Linken-Politiker Bodo Ramelow reicht nicht aus
- CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt will Ministerpräsident werden
- Björn Höckes Traum, die AfD in die Regierung zu führen
FDP: Kurzzeit-Ministerpräsident Kemmerich
Thomas Kemmerich war im Februar 2020 kurz Ministerpräsident in Thüringen. Damals trat der FDP-Mann im dritten Wahlgang als Gegenkandidat an, nachdem der amtierende Ministerpräsident von den Linken, Bodo Ramelow, in den ersten beiden Wahlgängen nicht genügend Stimmen erhalten hatte. Kemmerich bekam eine Stimme mehr als Ramelow. Da die AfD sich dazu bekannte, ihn mitgewählt zu haben, war der Aufschrei gewaltig. Das Land stürzte in eine schwere politische Krise.
Nun ist Kemmerich erneut Spitzenkandidat der FDP und wirbt auf großflächigen Plakaten mit der umstrittenen Ministerpräsidentenwahl. Genauer: Mit einer Szene nach der Wahl, als die damalige Linken-Fraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow dem FDP-Mann einen Blumenstrauß vor die Füße geworfen hatte. "Zurückgetreten, um Anlauf zu nehmen", steht auf dem Plakat. Für seine Kritiker ein Affront.
Die Kritik, er hätte das Amt gar nicht erst annehmen sollen, versucht Kemmerich so zu entkräften: "Dann hätte das halbe Land gesagt, ich sei ein Weichei. Antreten, die Mehrheit bekommen und dann Nein sagen." Und er ergänzt: "Ich hatte eine Mehrheit, Ramelow hatte keine."
Kemmerich wirbt mit seiner Bekanntheit und der umstrittenen Wahl zum Ministerpräsidenten 2020. Die FDP muss um den Einzug ins Parlament bangen.
Die Bundespartei trägt dem Thüringer Spitzenkandidaten die Vorgänge von damals noch immer nach. Finanzielle und personelle Unterstützung aus der Berliner Parteizentrale wird es für seinen Wahlkampf nicht geben. Zu stören scheint das Kemmerich allerdings wenig. Im Gegenteil. Als Verstoßener kann er ohne Rücksicht gegen die Bundesregierung, deren Teil die Bundes-FDP ist, austeilen.
Kemmerich setzt vor allem auf drei Themen im Thüringer Wahlkampf: Bildungspolitik mit weniger Unterrichtsausfall, den digitalen Umbau der öffentlichen Verwaltung und seinen persönlichen Bekanntheitsgrad.
Dabei scheint ihn wenig zu stören, dass die FDPin Umfragen immer weiter abrutscht. Im ARD-ThüringenTrend wird die Partei nicht mehr einzeln aufgeführt, weil ihre Anteile so gering sind. Andere Umfragen sehen die Liberalen bei lediglich zwei Prozent. Wäre das auch das Ergebnis am Wahlabend, säße die FDP künftig nicht mehr im Landtag.
Doch der FDP-Spitzenkandidat gibt als Ziel für den Wahlabend acht bis zehn Prozent aus. Er ist überzeugt: "Wenn wir das angepeilte Ziel am Wahltag schaffen, sind wir in der Position, Verantwortung für dieses Land übernehmen zu wollen." Während die Umfragen den Liberalen den Absturz in die außerparlamentarische Opposition ankündigen, träumt der Spitzenkandidat von einer Regierungsbeteiligung.
In welcher Konstellation er mitregieren will, hat Kemmerich bereits öffentlich gemacht. "Die Schnittmengen sind mit CDU und SPD am größten." Koalitionen mit Linken, BSW, Grünen und der AfD schließt der 59-Jährige aus.
BSW: Ex-Linke Oberbürgermeisterin Wolf
Katja Wolf war in Thüringen als Oberbürgermeisterin von Eisenach bekannt und beliebt. Zwölf Jahre lang machte sie den Job als Linke. Nun ist sie das überraschendste Gesicht in der Riege der Thüringer Spitzenkandidatinnen und -kandidaten. Dafür hat sie die Partei gewechselt: Sie will für das BSW in den Thüringer Landtag einziehen.
Damit ist Wolf Spitzenkandidatin einer Partei, die das Machtgefüge in Thüringen neu justieren könnte. Erstmals ist laut jüngster Umfragen eine Regierung mit eigener Mehrheit jenseits von AfD und Linken möglich. Das BSW und Wolf mischen die politischen Karten neu. Eine Aussicht, die noch vor wenigen Monaten völlig unrealistisch erschien. Wolf sagt: "Das ist schon auch eine Verantwortung."
Der ARD-hüringenTrend manifestiert, was sich in anderen Befragungen schon angedeutet hatte: 17 Prozent hätten, wenn zum Zeitpunkt der Umfrage Wahltag gewesen wäre, ihr Kreuz beim BSW gemacht. Und mehr noch. Wolf hat in Sachen Bekanntheit schon jetzt die jahrelang in der Landespolitik aktive Grünen-Spitzenkandidatin Madeleine Henfling überholt.
Wolf ist kein Sahra-Wagenknecht-Fan, wie sie sagt. Vor allem die Aussicht darauf, einen Politikwechsel für ihr Heimatland Thüringen erreichen zu können, habe ihr den Wechsel von der Linken zum BSW vor sich selbst vertretbar gemacht.
Wagenknecht dagegen scheint Wolf-Fan zu sein. Wenn es nach ihr geht, wird Wolf im Falle einer BSW-Regierungsbeteiligung Thüringens neue Ministerpräsidentin. Ihr Machtplan geht so: Das BSW sichert in Sachsen CDU-Mann Michael Kretschmer die Macht. Im Gegenzug hievt die CDU in Thüringen Wolf ins Amt.
Wolfs Reaktion: "Das ist eine Hürde, die ich nicht scheue." Gleichwohl ist Wagenknechts Rechnung wohlfeil. Zum einen tritt die Parteigründerin weder in Sachsen noch in Thüringen selbst an. Zum anderen ist nicht klar, wie die CDU mit einem solchen Deal umginge.
Wolf wechselte von der Linken zum BSW. Ihre Chancen auf ein gutes Wahlergebnis sind groß. Was kommt danach?
Das thematische Wahlprogramm wird vor allem aus Berlin vorgegeben. Landespolitische Schwerpunkte gibt es dennoch: So wollen Wolf und das BSW unter anderem mehr direkt-demokratische Einflussmöglichkeiten für die Menschen im Land, Reformen im Bereich Bildung und einen Abbau von Bürokratie und Verwaltungshürden.
Dass an ihr und dem BSW nach der Landtagswahl vermutlich kein Weg vorbeiführen wird, ist Wolf bewusst. Die CDU steht als möglicher Koalitionspartner im Raum. Nicht zuletzt, nachdem der Bundesvorsitzende, Friedrich Merz, seinen Landesverbänden freie Hand beim Umgang mit dem BSW gegeben hat.
Und doch drängt sich eine Frage auf: Hat das BSW in Thüringen überhaupt genügend Personal, um mitregieren und alle Posten besetzen zu können? Schließlich hat die Partei in Thüringen gerade mal 80 Mitglieder - mehr hat die Parteiführung in Berlin das Aufnahme-Prozedere noch nicht durchlaufen lassen und aufgenommen.
Wolf wiegelt ab: "Wir haben keine personelle Schwäche." Die 48-Jährige sagt, das BSW habe in Thüringen fähige Unterstützung und Experten, die von außen einwirken und beraten. "Natürlich kann ich mir auch vorstellen, dass jemand ohne Parteibuch für das BSW ein Ministeramt übernimmt."
Grüne: Landtagsvize Henfling
Madeleine Henfling führt die Grünen erstmals als Spitzenkandidatin in den Wahlkampf. Dabei weiß die 41-Jährige, dass es mit dem Wiedereinzug in den Thüringer Landtag knapp werden kann. Selten war die Ausgangslage so schwierig wie jetzt. Das Agieren der Bundespartei als Teil der Ampelregierung hat in Teilen der Bevölkerung Ablehnung erzeugt.
Das bekommt der Landesverband, der ohnehin seit jeher im Freistaat einen schweren Stand hat, zu spüren. Fragt man Henfling, welchen Zusammenhang sie zwischen dem Handeln der Bundespartei und dem Dauertief des Landesverbands sieht, sagt sie: "Einige Menschen überfordern wir offensichtlich mit unserer Politik."
Henfling weiß außerdem: Es fehlt an Wählerklientel im Freistaat. Die Grünen sind da stark, wo junge Menschen in großen Städten und universitärem Umfeld leben. Thüringen dagegen ist ein Land mit vergleichsweise alter Bevölkerung und ländlich geprägt. Demografische Umstände, die auch Henfling nicht zu ändern vermag.
Madeleine Henfling hat sich im Land einen Namen gemacht und kämpft nun für den Verbleib der Grünen im Landtag.
Im jüngsten ARD-ThüringenTrend kommen die Thüringer Grünen gerade noch auf drei Prozent. Besonders bedrohlich an dieser Situation: Fast ausnahmslos war die Partei in den letzten Umfragen vor Landtagswahlen stärker als schließlich am Wahlabend. Bestätigt sich dieser Trend, stünde die Partei vor dem parlamentarischen Aus.
Henfling ist Landtags-Vizepräsidentin. Sie hat Selbstvertrauen, Ehrgeiz und Beharrlichkeit. Fest steht: Die Thüringerin hat sich inzwischen einen Namen gemacht und etabliert. Nun muss sie versuchen, den Absturz der Grünen zu verhindern.
Im Wahlprogramm findet sich das, was die Grünen und ihre Wähler als Markenkern empfinden: Klimaschutz, Migrationspolitik und Mobilität. Eines der Wahlversprechen: Ein öffentlicher Personen-Nahverkehr, der tagsüber stündlich einen Bus in jedes Dorf fahren lässt. Azubis, Studenten und Senioren sollen den ÖPNV zudem kostenlos nutzen können.
Henfling hat auch die Bekämpfung des Rechtsextremismus zum Wahlkampf-Thema erklärt. Es ist ihr persönliches Steckenpferd. Kaum eine Debatte im Landtag vergeht, ohne dass die linke Grüne die AfD attackiert und vor einem drohenden Rechtsruck in der Zivilgesellschaft warnt.
Zudem will Henfling weg vom Image der Bevormundungspartei. Dazu plant sie mit ihrem Landesverband neue Dialog-Formate, um wieder mehr mit Bürgern ins Gespräch zu kommen. Auch, wie sie explizit betont, mit AfD-Wählern.
Denn aufgegeben hat Henfling ihre Grünen noch nicht. Im Gegenteil: Sie würde gern weiter mitregieren. Ihr Ziel sei eine Mehrheitsregierung, erklärt die Grünen-Politikerin. "Das kann auch bedeuten, man muss zu viert regieren."
SPD: Innenminister Maier
Georg Maier ist seit 2017 Thüringens Innenminister. Er sagt, als solcher kenne er die Wünsche und Sorgen der Thüringerinnen und Thüringer gut. Sein Versprechen als SPD-Spitzenkandidat: Er wolle das Leben der Menschen besser und einfacher machen mit gerechten Renten, gleichen Löhnen und einer Entlastung für Familien.
Die Thüringer SPD sitzt seit 15 Jahren mit an den Schalthebeln der Macht. Und für den Spitzenkandidaten selbst ging es auf der Karriereleiter stets nach oben. Doch es ist fraglich, ob Maier sich nach der Landtagswahl daran messen lassen kann, ob er diese Versprechen einhält. Erst muss die SPD es schaffen, genügend Stimmen zu bekommen, um erneut in den Landtag einzuziehen.
Die Umfragewerte der Partei sind im Freistaat seit fast einem Jahr nur noch einstellig. Sie liegen nach dem letzten ARD-ThüringenTrend bei sieben Prozent. Für die schwierige Lage der Thüringer SPD um ihren Spitzenkandidaten Maier gibt es nicht den einen, entscheidenden Grund. Es ist die Mischung.
Maier analysiert die Lage so: Die Schwäche der Bundes-SPD. Das schwindende Ansehen des Kanzlers. Die Wechselstimmung in Thüringen. Und nicht zuletzt das Dauerdasein seines Landesverbandes als Juniorpartner in den Koalitionen mit Linken und davor der CDU.
Maier lässt kaum eine Gelegenheit aus, sich und seine Partei von den Koalitionspartnern Linke und Grüne abzugrenzen. Was früher undenkbar erschien, hat der gelernte Banker inzwischen zu seiner Sache gemacht.
Er kritisiert einzelne Haltungen der Partner und den Ministerpräsidenten zum Teil sogar öffentlich. Als Ramelow im Frühjahr nicht ausschloss, seine Linke nach der Wahl in eine Koalition mit CDU und BSW zu führen, klagte Maier an, dem Ministerpräsidenten ginge es um den Machterhalt. "Herrn Ramelows nervöse Versuche, sich an die Macht zu klammern, wirken zunehmend hilflos", so der Vize-Ministerpräsident über seinen Vorgesetzten.
Maier will das Profil seiner Partei schärfen. Dafür geht er auch auf Distanz zu bisherigen Koalitionspartnern.
Maiers Motivation liegt auf der Hand: Er will sein und das Profil der Thüringer Sozialdemokraten schärfen. Raus aus dem Wahrnehmungsschatten. Abschiebungen nach Afghanistan? Ja. Waffenverbotszonen in Kommunen? Ja. Mehr Geld für Rentner? Ja.
Dazu gehört auch, dass die Thüringer Landesregierung Ende vergangenen Jahres die Zuständigkeiten und Verwaltungsabläufe beim Thema Migration änderte. Die zentralen Bereiche "Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen" sowie "Ausländer- und Asylrecht" wechselten aus dem Ressort von Migrationsministerin Doreen Denstädt (Grüne) in die Verantwortung von Innenminister Maier.