Monatelange Winterruhe Wie Bären der Thromboseforschung helfen
Wenn Menschen lange bettlägerig sind, wächst das Risiko einer Thrombose. Anders bei Braunbären: Sie können monatelang schlafen, ohne zu erkranken. Warum ist das so? Die Antwort könnte neue Therapiemöglichkeiten eröffnen.
Jedes Jahr erkrankt in Deutschland schätzungsweise einer von 1000 Erwachsenen an einer Thrombose - einem Blutgerinnsel, das die Blutversorgung behindert und die Vene im Extremfall völlig verschließt. Die möglichen Folgen, etwa eine Lungenembolie oder ein Schlaganfall, können lebensgefährlich sein.
Verursacht wird eine Thrombose häufig durch Immobilität - also langes Sitzen oder Liegen. Warum aber können Braunbären im Winter monatelang nahezu regungslos schlafen, ohne annähernd in die Gefahr dieser Erkrankung zu kommen? Und warum haben querschnittsgelähmte Patienten nach der Akutphase der Verletzung kein erhöhtes Thromboserisiko?
Diesen Fragen ist ein internationales Team von Forschenden unter Federführung von Tobias Petzold aus dem LMU Klinikum in München nachgegangen.
Bären bilden natürliche Schutzmechanismen
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus: Braunbären und Querschnittsgelähmte nutzen einen Mechanismus, der die Interaktionen zwischen Blutplättchen und Immunzellen reduziert und somit die Entstehung von Blutgerinnseln verhindert.
"Für uns als Forscher ist es immer faszinierend, wenn man mal wieder etwas mehr über den eigenen menschlichen Organismus lernt - wie er funktioniert und was in ihm passiert", sagte Petzold im Gespräch mit der tagesschau. Von den Ergebnissen, die jetzt im Wissenschaftsmagazin "Science" veröffentlicht wurden, erhofft sich das Team zudem neue Therapiemöglichkeiten.
Blutentnahme in Schweden
Für die Herz- und Kreislaufspezialisten des LMU Klinikums um Forscher Petzold begann das Forschungsprojekt mit zwei Reisen nach Mittelschweden - eine im Sommer, eine im Winter. Dort wird seit mehr als zehn Jahren eine ganze Schar von Braunbären wissenschaftlich untersucht.
Die Tiere tragen GPS-Sender, die ihren Aufenthaltsort markieren, wurden für eine Blutentnahme betäubt und anschließend wieder in die Freiheit entlassen. In einem mobilen Labor analysierten Kardiologe Petzold und seine Kollegen die Proben - insbesondere auf die Frage: Unterscheidet sich das Gerinnungssystem der Braunbären im Winterschlaf und in der Aktivität des Sommers? Das sogenannte plasmatische Gerinnungssystem spielt normalerweise bei der Entwicklung venöser Thrombosen eine entscheidende Rolle. "Doch da haben wir keinen dramatischen relevanten Unterschied gefunden", sagt Kardiologin Manuela Thienel, Co-Erstautorin der Studie.
In Schweden werden Braunbären seit Jahren wissenschaftlich untersucht, dort entnahm das Forscherteam Blutproben.
Weitere Untersuchungen in München
Einen Teil der Blutproben nahmen die Forschenden mit nach München, wo sie in ihren Laboren die Blutplättchen genauer unter die Lupe nahmen. Dabei stellte sich heraus: Im winterschlafenden Braunbärenkörper "wird die Interaktion zwischen den Blutplättchen und Entzündungszellen des Immunsystems gebremst", wie Kardiologe Petzold sagt, "das erklärt das Ausbleiben der venösen Thrombose".
Genau die gleichen Mechanismen wiesen die Wissenschaftler dann bei querschnittsgelähmten Patienten nach - und bei gesunden Probanden, die sich im Rahmen eines Versuchs der europäisch-deutschen und US-amerikanischen Raumfahrtbehörden (DLR und NASA) drei Wochen lang buchstäblich ins Bett legten.
Fast 2700 aktive Proteine quantifiziert
Um dem molekularen Mechanismus hinter dem schützenden Prozess auf die Spur zu kommen, wurden anschließend fast 2700 aktive Proteine in den Blutplättchen der Bären quantifiziert. Entscheidend dabei: In Winterruhe wurden gegenüber der Sommeraktivität 71 Proteine hoch- und 80 herunterreguliert. "Das Blutplättchen-Protein mit dem größten Unterschied zwischen überwinternden und aktiven Bären war das Hitzeschockprotein 47, das in den überwinternden Bären um das 55-fache herunterreguliert war", erklärt Johannes Müller-Reif vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried.
So konnten die Forschenden zeigen, dass die Herabregulation dieses HSP47 unter Langzeit-Immobilisation in verschiedenen Säugetierarten passiert und somit ein evolutionär konservierter Mechanismus zur Thromboseprävention ist.
Hoffnung: Medikament, das Blutgerinnsel verhindert
Durch geringe HSP47-Proteinlevel reduziert sich die Interaktion von Blutplättchen und Entzündungszellen. Tatsächlich, so Petzold, "ist HSP47 allein in der Lage, die Entzündungszellen zu aktivieren". Im biomedizinischen Umkehrschluss bedeutet das: Könnte man das HSP47 mit einem passenden Molekül bei immobilisierten Akutpatienten blockieren, ließe sich womöglich die Gefahr einer venösen Thrombose verhindern.
Diesbezüglich stehe man zwar insgesamt noch am Anfang, betont Petzold - aber: "Eine Wunschvorstellung von uns wäre, dass wir ein Medikament entwickeln, das man optimalerweise vielleicht auch als Tablette verabreichen kann - und das an den Blutzellen der Patienten bindet und bestimmte Eiweiße blockiert, um die Entstehung von Blutgerinnseln zu verhindern", so Petzold.